Lady Gaga und Joaquin Phoenix ließen am Mittwoch die Schlangen an den Vaporetto-Stationen anwachsen, legten das WLAN im Pressezentrum zwischendurch lahm und sorgten für noch mehr Ansturm vor dem roten Teppich als sonst. 2019 adelte die Jury die düstere Comicadaption „Joker“ von Todd Phillips bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Goldenen Löwen. Der vielfach ausgezeichnete Gewinnerfilm mutierte zum Kinohit. Die Fortsetzung „Joker: Folie à Deux“ dürfte stärker polarisieren.

Denn vieles von den begehrten Abgründen und Bösartigkeiten ist verschwunden, statt Wahnwitz herrschen Hormone, statt Glamrock sind ­ – wenn auch ironisierend – Musicalhits zu hören, statt Melancholie keimt in manchen Momenten gar Optimismus auf. Denn: Arthur Fleck, mit betörender Besessenheit erneut von Joaquin Phoenix dargestellt, bekommt mit Lady Gaga als Harley Quinn eine Geliebte zur Seite gestellt. Eine, in die er sich vom ersten Moment an verknallt. Eine, die aber nur den Joker in ihm begehrt. Blöd nur, dass gerade der Gerichtsprozess wegen fünffachen Mordes ansteht, wo Fleck von seiner Verteidigerin eingebläut wird, den Joker in ihm wegzusperren. Die Todesstrafe steht im Raum.

Arthur Fleck sitzt im Hochsicherheitsgefängnis Arkham Asylum ein, spendiert dem Personal manchmal einen Anti-Witz und ist bei den Insassen so beliebt wie das eben an so einem Ort sein kann. Einer der Wärter verhilft ihm zum Chor und dort trifft er auf die psychisch ebenso instabile Harley (Lady Gaga). Er fühlt sich sofort verbunden mit ihr und ist endlich nicht mehr einsam. Kurz wähnt man sich in einer Gangstergeschichte, wenn sie zündelt und ihnen beiden ein kurzer Moment des Ausrisses vergönnt ist. Ihre Liebe und ihre Kommunikation passiert ­– oft wie aus dem Nichts ­– in einer imaginierten Welt innerhalb eines kranken Kopfes. Dieses Universum inszeniert Phillips einmal langatmig als Argumente-Ping-Pong im Gerichtssaal, einmal als gewaltvolles Haftdrama, dann wiederum knallbunt als Musical-Jukebox; in der man an manchen Stellen glaubt, mit Nummern von den Bee Gees bis Billy Joel festzustecken.

Lady Gaga und Joaquin Phoenix beim Photocall in Venedig
Lady Gaga und Joaquin Phoenix beim Photocall in Venedig © IMAGO/Dave Bedrosian

Das Psychogramm eines Mannes, der am Ende nichts mehr zu verlieren hat, endete in „Joker“ in purer Anarchie. Teil zwei geizt nicht mit fantastisch choreografierten Tanz- und Musikszenen, mit wilden Ausbruchsfantasien, soghaften Kameraeinstellungen, mit körperlich intensivem Spiel von Joaquin Phoenix und fantastischen Show-Auftritten von Lady Gaga. „Joker: Folie à Deux“ braucht allerdings ewig, um das, was in Teil eins passiert ist, in Haft- oder Gerichtsszenen aufzuwärmen. Ideen für den ganz großen Spannungsbogen fehlen.

Ein Dröhnen, das bald verhallt

Vor der Weltpremiere zu Teil zwei sei er „viel nervöser gewesen als beim ersten Mal“, erzählte der Regisseur der Presse. Phillips und Phoenix hätten sich nach Teil eins gefragt: „Könnten wir etwas Unerwartetes wie den ersten Teil machen, obwohl es eine Fortsetzung ist?“ Dieses Vorhaben gelang.

© Courtesy of Warner Bros. Picture

Das Ziel, all das durch die Musik, die Arthur in seiner Kindheit mit seiner Mutter gehört haben könnte, geht aber nicht ab. Nach 138 Minuten brummt der Kopf von diabolischem Gelächter, potenziellen Musik-Ohrwürmern und allerhand Geschrei. Ein Dröhnen, das aber nicht lange nachhallt. Der Film startet am 3. Oktober in den Kinos. ●●○○○ Julia Schafferhofer

80 Plus

Sie kommen aus zwei Welten und Generationen: Theaterdoyenne Helene (Christine Ostermayer) lebt in einer noblen Seniorenresidenz, nebenan zieht die bodenständige, rauchende Toni (Margarethe Tiesel) ein. Weil die schwerkranke Helene in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch nehmen will, ist sie auf die Fahrdienste von Toni angewiesen. In einem alten Jaguar machen sich die zwei Frauen auf, um Helenes letzte Reise anzutreten. Als Schicksalsgemeinschaft finden sie zueinander. Leichtfüßig werden existenzielle Fragen verhandelt: Wie wollen wir leben? Wie sterben? „80 Plus“ vom Regie-Duo Sabine Hiebler und Gerhard Ertl ist ein liebenswertes, sehr konventionelles Roadmovie. Famoses Schauspielerinnenkino. ●●●○○ Julia Schafferhofer

Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin

Das Lied „Jung und Schön“ steht am Anfang dieses Musiker-Porträts. Zwar sind Element of Crime nach 40 Jahren Bandgeschichte mäßig jung, aber weiterhin besingt Sven Regener das Berliner Großstadt-Gefühl, mit rauer Stimme, in poetischen Texten voll Weltschmerz und trockenem Schmäh. Im Gespräch mit Filmemacher Charly Hübner über Melancholie, die Angst, uncool zu sein und deutsche Texte gibt sich die Band gut gelaunt. Dazwischen: Songs der Jubiläums-Tour. Zum Jubel-Konzert-Film gerät Hübners Porträt aber nicht, auch wenn es nicht so privat und politisch wird wie in seiner Punk-Doku „Wildes Herz“ über „Feine Sahne Fischfilet“. „Element of Crime in Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin“ ist wie die Band selbst: romantisch ohne Kitsch. MAW ●●●●○

System Change

Eine Autobahn mitten durch einen uralten Wald? Nicht nur in der Wiener Lobau, auch im hessischen Dannenröder Wald formiert sich heftiger Widerstand gegen eine Abholzung. Klaus Sparwasser erzählt seine etwas zu klassische Doku „System Change“ klar aus Perspektive der jungen Aktivisten, die sich an alte Eichen ketten. Wald und Autobahn sind dabei nur ein symbolischer Kampfplatz in der größeren Debatte über eine nachhaltige Zukunft; ein weiterer ist der Braunkohletagebau bei Lützerath. Am Anfang des Films steht die ungehörte Warnung des Club of Rome vor den Grenzen des Wachstums, wohlgemerkt aus den 1970ern. Am Ende die Forderung nach einem Aufwachen im Kampf gegen die Erderhitzung. Marian Wilhelm ●●●○○

Der wilde Roboter

Roboter, die Emotionen lernen und ihre tierischen und menschlichen Freunde vor Angreifern schützen, hatten schon immer das Zeug zum Filmklassiker. Man denke nur an „Der Gigant aus dem All“ oder „Wall-E“. „Der wilde Roboter“ dürfte sich bald in diese Liste einreihen. Basierend auf den Büchern von Chris Brown ist Chris Sanders („Lilo & Stitch“, „Drachenzähmen leicht gemacht“) ein wahres Juwel gelungen.

Die Handlung folgt ROZZUM 7134 (Lupita Nyong‘o), die auf einer unberührten, von wilden Tieren bewohnten Insel strandet und feststellen muss, dass hier niemand eine Arbeitsdrohne bestellt hat. Roz wird vom Übereifer gepackt und macht sich mit ihrer vermeintlichen Nützlichkeit bei den Tieren erst einmal viele Feinde. Als sie aus Versehen einen Baum mit einem Gänsenest fällt, entdeckt sie ein Ei, aus dem nun ein verwaistes Gänseküken schlüpft. Vom Opossum Pinktail (Catherine O’Hara) aufgefordert, sich um dieses zu kümmern, adoptiert sie das Küken, das sie Brightbill (Kit Connor) nennt. Die Aufgabe ist scheinbar simpel: Bis zum Herbst muss Brightbill fressen, schwimmen und fliegen lernen, um rechtzeitig in den Süden migrieren zu können. Der Fuchs Finn (Pedro Pascal) hilft ihr dabei, ihre rein technisch-logische Programmierung zu überwinden und außerhalb vorgefestigter Parameter zu denken.

Dass nach dieser Herausforderung und einem brutalen Winter auch noch die Boten einer dezimierten, vom Klima- und Technologiewandel betroffenen Menschheit auf der Insel auftauchen, ist dann ein Zeichen dafür, dass der Film oft zu viel Handlung in seine Laufzeit quetscht. Die einzige wirkliche Schwachstelle. Dennoch geht „Der wilde Roboter“ jede dieser Ideen einfühlsam und durchdacht an. Ebenfalls gelungen: die wunderschöne Animation, irgendwo zwischen 2D und 3D, die auf stilisierte Texturen setzt und an Illustrationen in Kinderbüchern oder Kritzeleien mit Buntstiften erinnert.

Wo der Film sich ebenfalls von der durchschnittlichen Kinderfilmmasse abhebt, ist, dass er nicht davor zurückschreckt, die Nahrungskette als einen natürlichen Teil des Lebens aufzuzeigen. Damit beweist der Film auch makabren Humor, und erhebt sich über seinen Zweck als reine Kinderunterhaltung zu einem Abenteuer, das auch ältere Semester abholt. Der Kern der Geschichte, die Suche nach sich selbst, und der Wunsch, über sich hinauszuwachsen, sind nun einmal zeit- und alterslos. ●●●●● Susanne Gottlieb