Budapest, auf den Straßen: Viele junge Menschen feiern ihre bestandenen Abschlussprüfungen. Nur Ábel (Gáspár Adonyi-Walsh) nicht. Der 18-Jährige ist bei der Matura durchgefallen. Blackout. Weil er Angst vor seinem cholerischen, rechtskonservativen Vater (István Znamenák) hat, erzählt er ihm nicht die Geschichte seines Versagens, sondern erwähnt beiläufig, dass womöglich sein linksliberaler Geschichtslehrer Jakab (András Rusznák) schuld sei, dass er nicht durchkam. Warum? Weil an seinem Revers ein nationaler Pin heftete; mehr aus Zufall.
Sein Vater springt auf die Theorie auf, erzählt sie seinem Doktor, sie wird weitergetratscht. Und landet bei der jungen Journalistin Erika (Rebeka Hatházi), die für eine Orbán-treue Zeitung arbeitet und ihre Chance auf eine Coverstory sieht. Ábels Notlüge jazzt sich bald zum nationalen Polit-Skandal hoch.
Gábor Reisz entlarvt in seinem messerscharfen Mentalitätsporträt „Explanation for Everything“, was es für die Bevölkerung bedeutet, wenn ein Land wie Ungarn gespalten ist und „die Kommunikation zwischen den Seiten brach liegt“, wie er zur Kleinen Zeitung sagt. „Mit 18 Jahren war ich auch politisch verwirrt. Was mein Vater ideologisch dachte, war mir wichtig.“
Der Filmemacher erinnert sich auch noch an jene Fidesz-Partei von 1989, die man nicht mit der heutigen vergleichen könnte. „2002 begannen plötzlich alle, den nationalistischen Pin zu tragen“, erzählt Filmproduzentin Júlia Berkes.
Mit Haltung, aber ohne Vorverurteilung oder Stereotype zu bedienen, skizziert der kleine Film große und drängende Fragen. „Explanation for Everything“ mahnt vor der Spaltung von Gesellschaften und den Machtmechanismen, die diese vorantreiben. Leichtfüßig verpackt in die Familiengeschichte eines traumwandlerischen Heranwachsenden.
Bei den Filmfestspielen von Venedig mauserte sich der Low-Budget-Film 2023 zum Festivalliebling und gewann den Preis in der Orizzonti-Sektion. Und was passierte im unter Regierungschef Viktor Orbán großteils zentralisierten Mediensystem Ungarns? Die regierungsnahe Presse berichtet über den Siegerfilm „Poor Things“ im Wettbewerb. Kein Wort vom ungarischen Gewinnerfilm.
„Wir erhielten keine Förderungen für den Film, nicht einmal für die Entwicklung“, sagt die Produzentin. Mit weniger als 100.000 Euro Budget mauserte sich „Explanation for Everything“ dennoch weltweit zum Festivalhit. Zwei Kritiken gab es in regierungsnahen Medien; eine davon war sehr positiv, sie wurde nach kurzer Zeit wieder offline genommen.
Ein Film wie dieser, so die beiden, könne Konsequenzen haben. „Aber wir mussten ihn machen.“ Mit geringsten Mitteln. „Ungarn ist ein großartiges Land, Budapest eine fantastische Stadt – für die Inspiration super. Die Themen liegen auf der Straße, sie müssen erzählt werden.“ Auch, wenn es immer schwierig wird, sie zu finanzieren.