Es herbstelt im Schaukasten. Substantive, Verben, Artikel, Adjektive lagern darin wie Laub; als hätte ein Wörterbaumbuch alle seine Wörter abgeworfen. Tatsächlich schaut man quasi in die Werkstatt der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Die rumäniendeutsche Autorin, als junge Frau jahrelang von Ceausescus Securitate drangsaliert, ehe sie 1987 nach Deutschland ausreisen durfte, schreibt - nebst preisgekrönten Romanen, die von existenzieller Unbehaustheit und von der Verfolgung und Unterdrückung in totalitären Systemen erzählen („Atemschaukel“, „Herztier“, „Der Fuchs war damals schon der Jäger“) - seit Jahrzehnten auch mit Schere und Uhu-Stick, indem sie aus Zeitschriften und Prospekten ausgeschnittene Wörter und Illustrationen zu Collagen in Postkartengröße gruppiert.

Ein Schaukasten voller Wörter im kunsthaus muerz
Ein Schaukasten voller Wörter im kunsthaus muerz © UB

So entstehen prägnant lyrische, verspielte, oft auch kauzige Texte: „Eine Heimat / mit Straßen ohne / Erde im Atlas aus / Gras wär doch was“ ist da etwa zu lesen, oder „In meinen Schläfen / baden zwei Eidechsen / die linke ist dienstlich / sie kam mit dem / Fahrrad die rechte ist / privat sie war im Salat“. In nicht wenigen finden sich merkwürdig anziehende Wortverschneidungen: Heimwehgift. Narrenmond. Silberzimmer. Wachsnasig.

Müller beim Collagieren: „Die ganze Kleberei“ hat wohl mit ihrer Lebensgeschichte zu tun
Müller beim Collagieren: „Die ganze Kleberei“ hat wohl mit ihrer Lebensgeschichte zu tun © KH MUERZ

Die Literaturwissenschaft weiß bis heute nicht so recht, wie sie die mittlerweile in einem Dutzend Bände versammelten Werke (das jüngste „Der Beamte sagte“, erschien 2021) einordnen soll: Ist es Wortkunst? Bildkunst? Soll man sie Gedichtbilder nennen? Mikroerzählungen? Prosagedichte?

Zyklus „Im Heimweh ist ein blauer Saal“
Zyklus „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ © UB

Hinreißend sind die zu Zyklen gruppierten Werke allemal. Und Müller selbst erklärt sie pragmatisch: „Die ganze Kleberei“ habe wohl mit ihrer Lebensgeschichte zu tun: „Dass es unzählige bunte Zeitschriften gibt, so gutes Papier, so viele Texte, die nur flüchtig gelesen und schon weggeschmissen werden – das alles kannte ich in Rumänien nicht. Es gab nur graue, nach Schmieröl stinkende Staatszeitungen, sonst nichts. Schon vom Umblättern kriegte man schwarze Finger.“

„So gutes Papier, so viele Texte, die nur flüchtig gelesen und schon weggeschmissen werden“: Müller über das Material ihrer Collagen
„So gutes Papier, so viele Texte, die nur flüchtig gelesen und schon weggeschmissen werden“: Müller über das Material ihrer Collagen © UB

Dass es dem Kunsthaus Mürz gelungen ist, die Autorin für eine Ausstellung ihrer Collagen in Mürzzuschlag zu gewinnen, kann man als veritablen Coup werten - umso mehr, als Müller am Donnerstag selbst zur Eröffnung kam.

„Kam ein Wind“ ist der Titel der Schau in Mürzzuschlag
„Kam ein Wind“ ist der Titel der Schau in Mürzzuschlag © Barbara Klemm

Seit Freitag ist ihrem Schreiben in Mürzzuschlag ein „Gesprächssymposion“ u.a. mit Franz Josef Czernin und Dagmara Kraus gewidmet (das Abschlussgespräch mit Publikumsbeteiligung ist für heute 16 Uhr angesetzt). Heute Abend liest sie in Mürzzuschlag aus „Atemschaukel“ und „Der Beamte sagte“.

Aus dem 28-teiligen Zyklus „Kam ein Wind“: Collage von Herta Müller
Aus dem 28-teiligen Zyklus „Kam ein Wind“: Collage von Herta Müller © UB