Wahr oder falsch? Fernand Léger hätte nach dem Zweiten Weltkrieg fast den Grazer Hauptbahnhof künstlerisch ausgestaltet. Eine Künstlergruppe um den Architekten und späteren Widerstandskämpfer Herbert Eichholzer finanzierte sich 1925 eine Afrikareise mit einem steirischen Folkloreabend in Addis Abeba. Lokalmythen wie diese greift der steirische herbst ab 19. September in seiner 57. Ausgabe auf – in der erklärten Absicht, gewohnte Narrative von Heimat und Identität zu unterlaufen. Denn wie berichtet lautet das Festivalmotto diesmal „Horror Patriae“, und diesem „Schrecken des Vaterlandes“ werde man „ein bisschen satirisch“ begegnen, versprach Festivalintendantin Ekaterina Degot am Dienstag bei der Programmpräsentation im brandneuen herbst-Café in der Grazer Neutorgasse.
Der zentrale Festival-Schauplatz liegt diesmal gleich vis-a-vis im Joanneumsviertel: Die Neue Galerie ist Schauplatz der titelgebenden Hauptausstellung und als „humorvoller und doch kritischer Gegenentwurf zu gängigen Nationalmuseen“ konzipiert. Gegliedert ist dieses „alternative Museum der nationalen Komplexe voll dunkler Phantasmen“ in mehrere fiktive Abteilungen. Und ausgestattet mit rund 40 künstlerischen Positionen, etwa von Renate Bertlmann, Valie Export, Jakub Jansa, Piotr Urbaniec, Ingo Niermann und Erik Niedling. Auch 15 Auftragsarbeiten hat der herbst für die Schau vergeben: Da legt etwa Thomas Hörl eine „Ahnengalerie“ aus Perchten an, Helene Thümmel untersucht die nationalen Zuschreibungen in heimischen Medien. Und David Kranzelbinder katalogisiert für ein Dokumentationsprojekt steirische „Marksteine“ diesseits und jenseits der österreichisch-slowenischen Grenze. Unter seinen skurrilen Fundstücken: eine Bismarck-Skulptur in Gosdorf.
„Chronik der laufenden Entgleisungen“
Hintergründiger Witz rund um gängige Heimatbilder, Identitätskonstrukte, nationalistische Verirrungen prägt etliche Projekte dieses Festivals – darunter die Uraufführung von Thomas Köcks „Chronik der laufenden Entgleisungen (austria revisited)“ am Grazer Schauspielhaus (22. 9.), Augustin Maurs‘ parodistischer Liederabend mit den Lieblingsliedern von Diktatoren (20. /28. 9.) oder eine Analyse des FPÖ-Putschs in Knittelfeld von 2002, erstellt durch das Grazer Theater im Bahnhof (ab 6. 10.). Und Yoshinori Niwa, der im herbst 2018 mit einem Müllcontainer für private Nazi-Reliquien auf dem Grazer Hauptplatz für Furore sorgte, bringt schon ab 14. September auf dem Neutorgassen-Spitz nach und nach ein gefaktes Wahlplakat zum Verschwinden – pünktlich zum Wahlsonntag am 29. September. Dem Tag der Nationalratswahl ist überhaupt einiges an Programm gewidmet: Ab 13 Uhr lädt Gerald Straub auf dem Grazer Hauptplatz zum „Corrido Estiria“ und widmet dabei mexikanische Liedfolklore zum ironischen Lob der Mächtigen um. Ab 17 Uhr, zum Zeitpunkt der ersten Hochrechnungen, steigt im herbst-Café eine Wahl-Watch-Party mit Musik und Showacts. Degot: „Wir feiern, was immer auch passiert.“
Festlich wird auch die Eröffnung am Wochenende davor: Im Lesliehof des Joanneums hält die Intendantin am 19. September ihre Eröffnungsrede, im Anschluss dekonstruiert Natalia Pschenitschnikova mit ihrer Performance A.E.I.O.U. österreichische Überlegenheitsansprüche. Nach der Eröffnung der Ausstellung „Horror Patriae“ folgt in der List-Halle die Performance „The Phantom of the Operetta“ durch das transnationale Kollektiv La Fleur. Von Freitag bis Sonntag folgen Performances (in Ari Benjamin Meyers‘ „The Nation of Sleep“ singen Kinder Erwachsene in den Schlaf, Franz von Strolchens „Empire: Rooting für the Anti-Hero“ im Theater im Land befasst sich anhand einer 1934 absolvierten Sportreise des Grazer SC-Straßenbahn nach Indonesien mit kolonialistischen Denkmustern), Führungen, Diskursprogramme.
Dichtes Programm
Bis 13. 10. folgt dichtes Programm etwa mit Performances (Marta Navaridas‘ feministische Punk-Ballett-Aneignung „Once Upon A Time in the Flames: Our Firebird Ballet“, ab 26. 9.), Ausstellungen (Kunst Heimat Kunst revisited, Forum Stadtpark, ab 27. 9.), Partnerprogrammen (das Kollektiv Kra begibt sich in „Mission Mutter Teresa“ auf Tuchfühlung mit der katholischen Kirche, ab 25. 9.), Kabarett (mit Laszlo Göndör, hannsjana), Vermittlungsprogframm (mit Subkultur-Musikworkshops etc.) Das musikprotokoll findet von 3. bis 6. Oktober statt, das Literaturfestival „Out of Joint“, diesmal unter dem Motto „Die Welt von gestern/Die Welt von morgen“, von 8. bis 11. Oktober.
Ute Baumhackl