Ein Anruf aus der Schule – das verheißt nichts Gutes. Es sei etwas passiert, sagt die Lehrerin. Luca, 7, habe ein Mädchen belästigt, gezwungen. Luca, so ein liebes, sensibles Kind! Und jetzt dieser Vorwurf. Die Eltern – Pia und Jakob – reagieren völlig unterschiedlich auf die Situation. Die Mutter insistiert, der Vater kalmiert. Die Mutter sagt: „Weil ich mich in Luca erkenne, bin ich wachsam.“ Und Luca selbst, der schweigt. Aus dieser Konstellation hat die österreichische Schriftstellerin Jessica Lind ein ebenso raffiniertes wie beklemmendes Psychodrama konstruiert. Ihr neuer Roman trägt den Titel „Kleine Monster“, und es geht darin um die schrittweise Dekonstruktion einer scheinbar heilen Familie. Die Frage, was Luca tatsächlich getan hat und die Hilfslosigkeit der Eltern, zu ihrem Kind vorzudringen, wirkt wie schleichendes Gift auf das Zusammenleben.

Doch immer mehr stellt sich heraus, dass nicht Luca das größte Problem darstellt, sondern seine Mutter. Wie viel von den eigenen Verwundungen gibt man weiter? Pia wuchs ebenfalls in einer scheinbar heilen Familie auf. Sie war die älteste von drei Töchtern. „Wir drei sind eins“, lautete das unverbrüchliche Kindheitsmotto. Pia, die Erzählstimme des Romans, war „die Vernüftige“, die adoptierte Romi „das Lausekind“, das Nesthäkchen Linda „der Sonnenschein“. Doch dann ein tödlicher Unfall, Linda stirbt – und die heile Welt zerbricht. Die zerstörerische Kraft des Ungesagten macht sich breit. In Pias Kindheit – und dann in ihrer eigenen Familie. Pia wittert das Dunkle in ihrem eigenen Kind, weil sie es selbst gut kennt.

Untrügliches Gespür für Familienkonstellationen

Jessica Lind beweist in ihrem zweiten Roman ein untrügliches Gespür für ganz feine Haarrisse in Familienkonstellationen. „Kleine Monster“ ist ein subtiles, doppelbödiges Kammerspiel der Emotionen. Der Erzählstrom entwickelt sich zum Schwelbrand. Der Vorfall in der Schule erweist sich als harmloser als gedacht, doch die Skepsis der Mutter bleibt, hinzu kommen die Selbstvorwürfe, dem eigenen Kind nicht zu trauen. Es geht aber auch darum, was sich aufstaut zwischen einem Paar, während es versucht, das Kind gemeinsam großzuziehen.

Dieser Roman ist auch ein heimtückisches Spiel mit Erwartungshaltungen und Rollenbildern. Die zentrale Frage ist jedoch, wie gut wir unsere Kinder kennen – und wie gut uns selbst. Und wie sehr man die eigene Erziehung reproduziert. „Die Mutterhaut, die ich trage, passt nicht wie angegossen“, sagt Pia an einer Stelle. Dass der Blick in den Familienabgrund letztlich auch die Chance eines Aufbruchs in sich trägt, ist ein nicht geringer Trost am Ende eines Buches, in dem Jessica Lind unerschrocken auf Monsterjagd geht.

Jessica Lind. Kleine Monster. Hanser Berlin, 250 Seiten, 24,70 Euro.

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