Man sollte sich vom Thema nicht abschrecken lassen. So liebevoll, empathisch und klug ist selten über AIDS geschrieben worden wie in dem hochgelobten Debütroman des jungen Franzosen Anthony Passeron. Der Autor wählt darin geschickt zwei Erzählebenen: die eine ist die des Schicksals seiner eigenen Familie in der französischen Provinz, die andere jene der wenig ruhmreichen Geschichte der Entdeckung des HIV-Virus und der Bekämpfung der dadurch verursachten Krankheit AIDS. Dabei geht es Passeron nicht darum, auf die Tränendrüsen zu drücken. Auf beiden Erzählebenen sind es eher die Mechanismen innerhalb der Gesellschaft, die ihn interessieren: Da ist sein Onkel Desiré, der aus der starren Dorfgemeinschaft ausbricht, ein sexuell freizügiges Leben wählt, dem Heroin verfällt und samt seiner Frau und seiner Tochter elend an der Immunschwächekrankheit zugrunde geht.

Und ihm gegenüber Passerons Großmutter Louise, Kind armer italienischer Einwanderer, die verzweifelt versucht, die bürgerliche Fassade aufrecht zu erhalten. Aber sie wächst dann am Krankenbett von Desiré und noch mehr an dem seiner völlig unschuldig infizierten Tochter Émilie über sich hinaus, macht den Sterbenden Mut. Das Reden über die vermeintliche Schande, ihre Familienmitglieder an die „Schwulenkrankheit“ verloren zu haben, gelingt ihr trotzdem nicht.

Im anderen Erzählstrang zeichnet Passeron die Geschichte der AIDS-Epidemie, der Entdeckung des HIV-Virus, die Entwicklung von Strategien zur Behandlung der Immunschwächekrankheit nach. Und die ist ernüchternd: einander rivalisierende Forschungen in Europa und den USA und eine zu lange inaktive Politik ließ die Fallzahlen explodieren. „Die Schlafenden“ ist übrigens ein Euphemismus für die im Drogenrausch auf der Straße liegenden Süchtigen, mit Nadeln in den Armen und nicht wachzukriegen, so wie Passerons Onkel Desiré es war. Es überrascht nicht, dass dieses erschütternde Buch am Höhepunkt der Corona-Pandemie geschrieben wurde.

Anthony Passeron. Die Schlafenden. Übersetzt von Claudia Marquardt. Piper Verlag. 256 Seiten, 24,70 Euro.