Der Beginn unserer Reise war das Ende der seinen. Neuer Jüdischer Friedhof, Prag. Eröffnet 1890, mehr als 100.000 Quadratmeter groß; eine Stadt der Toten, durch die zahlreiche Wege führen, viele Gräber efeuumrankt. Auf einem schlanken, kubistischen Grabstein stehen drei Namen, die Inschriften sind auf Hebräisch. Hier ruhen: Dr. Franz Kafka und seine Eltern Hermann und Julie. Auf einer Tafel, die an den Stein gelehnt ist, stehen die Namen der drei Schwestern von Franz Kafka, die in Nazi-Konzentrationslagern ermordet wurden.
Am 3. Juni 1924 starb der zu Lebzeiten nur Eingeweihten bekannte Schriftsteller Franz Kafka in einem Sanatorium nahe Wien an den Folgen einer Kehlkopftuberkulose (siehe auch Seite 9). Sein Leichnam wurde in einem verplombten Zinnsarg in seine Heimatstadt Prag transportiert. Am Begräbnis nahmen nur rund 50 Trauernde teil. Die Familie, Freunde und Dora Diamant, Kafkas letzte und vermutlich einzige Liebe. „Und Dora soll sich beim Begräbnis kreischend auf das Grab geworfen haben“, sagt jetzt Harald Salfellner und deutet auf die Stelle. „Aber das ist vermutlich auch nur eine Legende, wie so vieles rund um Franz Kafka.“
Verklärt wie ein Popstar, ranken sich bis heute, 100 Jahre nach seinem Tod, Mythen und Legenden, Floskeln und Klischees um jenen Mann, nach dem sogar ein Eigenschaftswort benannt wurde: kafkaesk. Es steht für all das, das Kafka in seinen solitären Werken – „Der Prozess“, „Das Urteil“, „Das Schloss“, „Die Verwandlung“ – mit erschütternder Klarheit und visionärer Kraft zum Ausdruck brachte: das Bedrohliche, Unheimliche, Unfassbare, Absurde, das Mahlwerk der Bürokratie, die Brutalität des Totalitären, die Ausweglosigkeit des Lebens letztlich.
Vor dem Grabstein liegt ein Stein, auf dem „Franz“ steht, daneben vergilbte Stifte und ein zerknitterter Zettel, wohl eine Botschaft eines Bewunderers an den Toten. Die große Kafka-Renaissance setzte erst viele Jahre nach seinem Tod ein. „In den deutschsprachigen Ländern wurde Kafka, der ewige Sohn, zu einer Identifikationsfigur der Nachkriegsjugend. Linksorientierte Autoren vereinnahmten ihn später als Sozialisten, was um 1968 gut ankam. Kafka war nicht länger Geheimtipp. Plötzlich war es schick, auf Demos eines seiner Bücher aus der Tasche zu ziehen.“
Harald Salfellner beschäftigt sich intensiv und auf wissenschaftlicher Basis mit dem Phänomen Kafka und all seinen Verklärungen und Verkleisterungen. Der gebürtige Steirer ist eigentlich Arzt und Medizinhistoriker, doch die Leidenschaft für Bücher und Literatur begleitet ihn bereits von Kindheit an. Als die Samtene Revolution den Kommunismus wegfegte, verschlug es ihn nach Prag, wo er den Verlag „Vitalis“ gründete und sich auf Kafka und den böhmischen Kulturraum spezialisierte. Rund 50 Bücher verlegt er jährlich, 300 Titel befinden sich im Gesamtkatalog.
Karlsbrücke, Altstädter Ring, das Rathaus. Wenn der leidenschaftliche Spaziergänger Kafka heute mit Stock und Hut durch Prag flanieren würde, wäre er ob der Touristenmassen verstört. Von seinem Geburtshaus in der ehemaligen Niklasgasse ist nur noch das Hauptportal mit der darüberliegenden Balkonbrüstung erhalten, an der Fassade ist eine Gedenkbüste angebracht. Auch das Verhältnis Kafkas zu seiner Geburtsstadt wird oft romantisiert. „Ja, Kafka ist Prag und Prag ist Kafka“, sagt auch Harald Salfellner und zitiert damit den Schriftsteller Johannes Urzidil. „Aber Kafka war nicht so begeistert von der Goldenen Stadt, wie es den Anschein hat. Zunächst wollte er nach Berlin, wo die deutsche Literatur ihr Zentrum hatte, mit zunehmendem Alter zog es ihn nach Israel. Und nicht vergessen darf man auch die starken antisemitischen Tendenzen in Teilen der tschechischen Gesellschaft.“
Als Harald Salfellner nach Prag kam, war die Stadt beziehungsweise das Land verlegerisch gesehen Kafka-Brachland. „In kommunistischer Zeit war er unbeliebt und hatte den Geruch des Dekadenten. Das hatte natürlich mit seiner jüdischen Herkunft, aber auch mit seiner Sprache zu tun. Deutsch, das war die Sprache des Erzfeindes, die Sprache der sudetendeutschen ‚Revanchisten‘. Es dauerte eine Zeit, bis sich diese verhärteten Stereotype aufweichten.“
Stereotype, die bis heute auch am Menschen Kafka haften. Der notorische, fast pathologische Zauderer, der ewige Verlobte, der sich nach einer eigenen Familie sehnte und gleichzeitig vor nichts so sehr Angst hatte, weil er wusste, dass Bindungen mit seiner absoluten Auffassung des Schreibens unvereinbar sind. Natürlich steckt in all dem ein Kern Wahrheit, aber Kafka war auch sozial vernetzt, hatte Freunde, Kontakt zu Frauen, auch sexueller Natur, oft nur zu dem Zweck, dass die „Jammerei des Körpers“ aufhören möge. Er war auch in seine Familie eingebunden, bekanntlich mit vielen Verhärtungen und Verwerfungen. Legendär sein nicht abgeschickter, aber in die Literaturgeschichte und auch Psychologiegeschichte eingegangener „Brief an den Vater“, der als monströse Abrechnung gelesen werden kann. Ja, Kafka war wahrlich wunderlich und wundersam, der Mensch ebenso wie sein Werk. Aber er war nicht der soziopathische Freak, als der er etwa in David Schalkos Serie dargestellt wird.
„Man sollte auch damit aufhören, Kafka zum literarischen Heiligen zu verklären.“ Salfellner geht in jene schmale Gasse in der Burgstadt, für die Eintritt zu zahlen ist, erst ab 17 Uhr ist der Zutritt kostenlos. Das Goldene Gässchen, jetzt buntes Postkartenidyll, zählt zu den wohl bekanntesten Kafka-Stätten Prags. Angelegt im ausgehenden 16. Jahrhundert, ursprünglich Alchemisten- oder Goldmachergässchen genannt, war es Wohnstätte für die Ärmsten und Brutstätte für Krankheiten aller Art. In den 1950ern mussten die letzten Bewohner ihre Häuschen verlassen.
Der Bezug zu Kafka. Um 1916 hatte Ottla, Kafkas Lieblingsschwester, das Häuschen mit der Nummer 22 zur Miete erworben und damit ihrem Bruder Franz eine ideale Schreibstätte geschaffen. Eine kleine Stube nur, kaum mehr als 15 Quadratmeter groß, aber für Kafka der Himmel auf Erden. Endlich allein, endlich Stille, endlich Ruhe. Hier konnte er Texte verfassen, die das Dunkle und Rätselhafte in sich trugen, aber gleichzeitig voll Licht und Klarheit waren.
Hier konnte er das zu Papier bringen, was er in einem Brief als sein Credo postulierte: Eine Ansicht des Lebens zu gewinnen, das „zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde.“ Hier also konnte sich Franz Kafka dem widmen, dem er sein gesamtes Leben unterordnete: dem Schreiben. Im Goldenen Gässchen entstand ab 1916 eine Reihe von Texten, die 1920 im Sammelband „Ein Landarzt“ veröffentlicht wurden.
Nachdem er – übrigens durchaus erfolgreich – tagsüber seine Arbeit als Jurist bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt verrichtet hatte, stieg er abends hinauf ins Goldene Gässchen, setzte sich in die schmucklose Stube und widmete sich stundenlang dem Schreiben. Oft erst in den frühen Morgenstunden stieg er dann wieder über die Alte Schloßstiege zur Stadt hinunter in seine Wohnung. Genau an diesem symbolträchtigen Ort, im Goldenen Gässchen, Haus Nr. 22, betreibt Harald Salfellner seine Buchhandlung. „Viele Tausende Menschen aus aller Welt pilgern hierher, erkundigen sich nach Kafka, und obwohl viele davon noch nie eine Zeile von ihm gelesen haben, spüren sie das Besondere des Ortes. Für mich ist diese Klosterzelle eines Dichters der vielleicht intimste literarische Ort in ganz Prag, trotz der Vielzahl an Besuchern.“
Das Alleinstellungsmerkmal Kafkas als Schriftsteller fernab all der Etikettierung zu beschreiben, fällt Salfellner trotz jahrzehntelanger Beschäftigung mit ihm schwer: „Soll ich den ganz besonderen Tonfall seiner Texte erwähnen, die frei von unnützen Girlanden und jeglichem Schwulst sind? Oder sind es die typisch Kafka’schen Paradoxa, die den Leser einmal in philosophisch-religiöse Tiefen führen und dann wieder ratlos zurücklassen? Oder ist Kafkas feiner Humor der Kern, der immer wieder in seinen Texten aufblitzt? Dem Wortgeklingel unserer rastlosen Tage stellt Kafka ruhige, wuchtige Bilder entgegen.“
„Fast 80 Jahre sollte es dauern, bis man Franz Kafka in seiner Geburts- und Heimatstadt Prag ein Denkmal setzte. Am 4. Dezember 2003 wurde anlässlich seines 120. Geburtstages von der örtlichen Kafka-Gesellschaft ein 3,75 Meter hohes und 700 Kilogramm schweres Standbild aus Bronzeguß enthüllt“, schreibt Salfellner in seinem Buch „Franz Kafka. Ein Leben in Prag“. Die Skulptur stammt von Jaroslav Róna, der angeblich durch die Lektüre von Kafkas „Beschreibung eines Kampfes“ zum Kunstwerk inspiriert wurde.
Dass der kleine, schmächtige Mann jetzt, anlässlich seines 100. Todestages, wieder groß gefeiert wird, kommentiert Salfellner so: „In 30 Jahren als Prager Verleger habe ich schon manchen runden Jahrestag kommen und gehen sehen – immer war es die Stunde der Konjunkturritter, die auf einen fahrenden Zug aufspringen. Ernsthaftes darf man da nicht erwarten, eher Spektakel, Populärwissenschaft und das Verbraten von Kulturförderungen. Insofern freue ich mich, wenn dieser Jahrestag endlich vorbei ist, und der so stille und vornehme Kafka uns wieder sanft anlächelt.“
Harald Salfellner steht jetzt vor diesem Denkmal und schaut hoch zur kleinen Kafka-Figur, die auf den Schultern eines großen Mannes sitzt, der offenbar – das große Loch deutet darauf hin – bloß leere Hülle ist. Ganz in der Nähe hängt ein Plakat, auf dem steht: „Who is immortal?“ – Wer ist unsterblich? Was für ein kafkaesker Zufall. Aber das letzte Wort am Ende der Reise hat Franz Kafka selbst, der über seine Werke einmal gesagt hat: „Die Überlegungen, zu denen sie Anlaß geben, sind endlos.“
Kafka zum Nachlesen
Von Bernd Melichar