Zwischennutzungen erschließen der Kultur ungewohnte Orte, lassen neue Blicke zu: auf abseitige Locations wie auf das dort Gezeigte. Das hat das Dramatiker/innenfestival nicht erfunden, doch das Team um Edith Draxl macht die Begegnung mit Dramatiker/innen erfolgreich zur urbanen Entdeckungsreise: Neue Texte schreiben sich der Stadt ein. Als Herzstück des Festivals, das sich in Inszenierungen, Performances, Lesungen, Workshops, Diskussionen u.v.m. der dramatischen Zeitgenossenschaft verschreibt, führen Dramawalks in locker szenisch eingerichteten Lesungen auf unbegangenen Graz-Pfaden durch die junge literarische Landschaft.
„Vieles ist kaputt oder wird gerade kaputt gemacht“ lautete der erste Satz des Leitmotivs für 2024. Vor, in und in der Nachbarschaft der zum Abriss freigegebenen Rösselmühle erzählten Caren Jeß, Fayer Koch, Florian Maier, Rike von „Auflösung“. Passend zum Setting beschreibt Jeß‘ Text „Ave Joost“ wie sich im (nicht nur) urbanen Abseits zwei sehr verschiedene Menschen näherkommen. Kochs „Anorexia Feelgood Songs“ verhandelt in kunstvoll montierten Perspektivwechseln die wissentliche Selbstzerstörung eines an Magersucht – eben nicht – Leidenden. „Rag(e)weed“ von Florian Maier stellt seine Ökodystopie videogestützt als virtuoses Sprachgemälde vor. Angesichts der radikalen Geschlossenheit des Kunstwerks drohte die sonst überall sehr geglückte schauspielerische Umsetzung ins Schlingern zu geraten.
Reinigers stellt in schnörkellosen Sätzen voll Liebe und leisem Sarkasmus ihre Verwandte Lotte Reiniger als berühmteste Unbekannte der Filmgeschichte vor: eine Pionierin der analogen Animation, die als Frau nicht nur durch die Nazis von dem ihr gebührenden Platz im Licht verdrängt wurde. In den Räumen von ISOP widmeten sich Texte von Laura Bernhardt und Anton Fischer der „Angst“. Für Bernhardt hat sie den Namen „Deutschland erwacht, bleibt aber liegen“. Ebenso klug wie komisch seziert der anspielungsreiche Text den neuen deutschen (und österreichischen) Patriotismus zwischen Fußball, Bier und Gabalier, Sissi, Franz und „Gott erhalte“. Subtiler nähert sich Fischer in „Und weiter Nichts.“ dem Thema. Hier tritt die Angst in der verstörenden Ignoranz zutage, mit der ein Abstiegsmittelstandspärchen am Ende seiner Liebe der existenziellen Not am Touristenstrand angespülter Boat People begegnet: eine preisverdächtig vielschichtige Analyse der kollektiven Sprach- und Verständnislosigkeit.
Im Kunsthaus Graz – rund um Sol LeWitts „Wall“ und in der „Needle“ – spürten Texte von Sophia Barthelmes und Armela Madreiter „Grenzverletzungen“ nach. Barthelmes‘ „vag’ weilt regen“ über den Kreuzweg zu einer vor Gericht nicht anerkannten Vergewaltigung erhielt minutenlangen Applaus, obwohl die Darstellerinnen des Grrrls Chor Graz sich dem Text als Laien näherten. Madreiters „Intendantenwechsel“ fokussiert auf strukturelle Ungerechtigkeit im Betrieb: Nabelschau, aber virtuos.
Von hier ist es ein großer Schritt ins große Haus des Grazer Schauspielhauses, wo Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster mit „Die vielen Stimmen meines Bruders“ in schnippisch intelligenter Dramaturgie aufrollte, wie inklusiv Theater funktionieren kann, wenn Menschen mit Behinderung für jene schreiben, die sie behindern (also für uns). Kein Dramawalk, aber ein Marsch durch die Institutionen - barrierefrei.
Hermann Götz