Geschichte hat er schon geschrieben, wie das Branchenmagazin „Variety“ vermeldete: Mo Harawes „The Village Next to Paradise“ ist der erste somalische Film im Wettbewerb der Schiene „Un certain regard“ bei den Filmfestspielen von Cannes. Der in Wien lebende Drehbuchautor und Regisseur erzählt von einer zusammengewürfelten Familie und vom harten Alltag in einem windgepeitschten Dorf an der Küste Somalias; nur einen Steinwurf von schönsten Stränden entfernt.
Mamargade (Ahmed Ali Farah) ist Alleinerzieher, strauchelt als selbstständiger Totengräber mit der Konkurrenz großer Bestattungsfirmen und transportiert hie und da für zwielichtige Gestalten in mit Obst und Gemüse getarnten Lieferwägen Waffen. Er lebt mit seiner Schwester (Anab Ahmed Ibrahim) zusammen. Die steckt gerade mitten in einem Scheidungsprozess und hat einen großen Traum: einen Laden mit ihren selbstgenähten Produkten aufsperren. Mamagades Sohn Cigaal (Ahmed Mohamud Saleban) ist vif und fröhlich und verehrt seinen Vater. Als die Schule im Dorf plötzlich zugesperrt wird, rät die Lehrerin dem Vater, den Sohn in ein Internat in der Stadt zu schicken. Das Geld dazu fehlt eigentlich. Dennoch entscheidet sich der Vater dafür.
Was ist Familie? Was ein gutes Zusammenleben? Welche Entscheidungen sind die richtigen? Der in Mogadischu geborene Filmemacher Mo Harawe wirft in „The Village Next to Paradise“ viele existenzielle Fragen auf, die er als universelle Geschichte erzählt – vor dem Hintergrund eines von Krieg und Krisen gebeutelten Landes. Darauf verweist gleich einmal eine Szene zu Beginn: Ein englischsprachiger Nachrichtensender berichtet von einer Drohnenattacke, bei der eventuell ein Topterrorist getötet wurde. Drohnen und das Dröhnen zählen hier in dem Land in Ostafrika ebenso zum Alltag wie steter strenger Wind. Angriffe durch Drohnen bedeuten hier auch, dass Mamagade eventuell bald einen nächsten Auftrag hat. Gekonnt spielt Mo Harawe mit den Perspektiven; vor allem mit dem vermeintlich westlichen Blick auf Somalia.
Dieses atmosphärisch dichte Debüt zeichnet sich durch lange, exakt komponierte Einstellungen, wärmende Farben, ein genaues Handwerk und das Nicht-Auserzählen oder Erklären der Figuren aus. Mo Harawe gewährt auf umwerfende Art und Weise seltene und beglückende Einblicke in den für uns fremden Alltag zwischen Tuk-Tuk-Fahrten, Demos und Kochen. Seine Protagonistinnen und Protagonisten standen teils zum ersten Mal vor der Kamera und tragen mit ihrem authentischen Spiel zur gemächlichen Erzählung bei. Korruption, Gewalt, Kriminalität, Clan-System, Chemikalien-Katastrophen, extreme Armut oder Drogenproblematik: Vieles wird angedeutet, behutsam vermittelt, dringt in den Alltag von Mamagade und den anderen ein. Warum vieles in diesem Familiensystem unorthodox ist, erschließt sich den Zuschauenden erst nach und nach. Es ist wunderschön anzusehen, wie die Charaktere mit den äußeren Gegebenheiten hadern, eine unbändige Widerstandskraft entwickeln, sich aus der Opferrolle der Umstände schälen und sich dabei ihrer Träume nicht berauben lassen.
Am Samstag werden von der Jury unter dem Vorsitz des kanadischen Filmemachers Xavier Dolan die Preise in der Sektion „Un certain regard“ vergeben. Mo Harawes außergewöhnliches Langfilmdebüt mit einem beeindruckenden Cast darf sich auch für den Preis für Erstfilme Caméra d‘or Chancen ausrechnen. „The Village Next to Paradise“ ist eine majoritär österreichische Koproduktion der Freibeuterfilm in Koproduktion mit Kazak Productions (Frankreich), NiKo Film (Deutschland) und Maanmaal ACC (Somalia).