Von Bühne bis Film: Birgit Minichmayr ist gerade omnipräsent und in allem preisverdächtig. Für ihre atemberaubende Performance von Maria Lassnig in „Mit einem Tiger schlafen“ erhielt sie den Diagonale-Schauspielpreis. Sie ziehe, begründet die Schauspiel-Jury, „wie die Künstlerin selbst, schmerzlich unter die Haut gehend und mit höchster Intensität, Spuren auf der weißen Leinwand, die im Grunde unser aller gemeinsames Schicksal darstellen.“ DIE Minichmayr beendete ihre Dankesrede am Samstagabend im Grazer Orpheum mit den Worten: „Zugegeben, für mich war Maria Lassnig manchmal eine harte Nuss.“ Davor erzählte sie noch die Anekdote, dass die Künstlerin bei der Preisverleihung zu ihrem Lebenswerk in Venedig – damals war sie 93 – ihren Assistenten Hans Peter Poschauko anwies, so viele Zettel zu drucken und den Anwesend zuzustecken. Darauf zu lesen: „Hilfe! Holt mich hier raus!“ Minichmayer: „Ich bin ihr seit dem Dreh unfassbar verfallen. Sie hat sich der Kunst unterworfen.“
Nebst einer arrivierten Schauspielerin geht der Darstellerpreis der Diagonale 2024 an einen Neo-Schauspieler: den Musiker und Wienerlied-Experten Voodoo Jürgens alias David Öllerer in Adrian Goiginers Wien-Ode „Rickerl“. Mit seinem „respektvollen und leidenschaftlichen Zusammenspielen mit allen Figuren, von groß bis klein, lässt er Rickerl um sein verloren geglaubtes Leben kämpfen und erzeugt dabei eine unwiderstehliche Kraft und Nähe“, urteilte die Jury. Der Musiker sagte auf der Bühne: „Normalerweise würd i mir jetzt ane anhazn, aber das passt jetzt ah net.“ Der Preis, erzählte uns Voodoo Jürgens, kam für ihn doch „sehr überraschend.“ Hier porträtieren wir ihn in der aktuellen Ausgabe.
Vizekanzler Werner Kogler kam, um die erste Ausgabe der Neo-Intendanz Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh zu würdigen. „Offenheit ist das Um und Auf für eine offene und freie Gesellschaft, wo wir aufeinander Acht geben und Verantwortung füreinander nehmen.“ Denn: Kunst und Kultur seien Teilchenbeschleuniger. Film zeige uns die „Welt im Kleinen.“ Das hätte großen Output für unsere Gesellschaft.
Die Bilanz von 2024
Ausgezeichnete Debüts und die eine oder andere Überraschung gab es bei den Diagonale Awards im Grazer Orpheum zuhauf: Martha Mechow, Hausregisseurin an der Berliner Volksbühne, erhielt den Großen Diagonale-Spielfilmpreis für ihr unwiderstehliches, schrulliges und formal experimentierfreudiges Roadmovie „Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin“, bei der eine Mutter vom Sofa aufgesaugt wird und die eine Schwester die andere in einer Frauenkommune auf Sizilien sucht. Die Berlinerin startete mit diesem Film in ihrem ersten Jahr an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, wie sie im Interview der Kleinen Zeitung erzählt. Die vor Eigensinn strotzende deutsch-österreichische Koproduktion, die ihre Österreich-Premiere auf der Viennale feierte, ist nächste Woche im Wiener Metrokulturhaus zu sehen. In einer Videobotschaft bedankte sie sich bei der Diagonale und bei der Jury ebenso unerwartet: „Ich bin entsetzt“, sagte sie. Erst durch diese Aufmerksamkeit beginne sie, über eine Zukunft als Filmemacherin nachzudenken.
Martha Mechow im Interview
Die Jury war vom ersten Moment an „hellwach“, wie sie in ihrer Begründung verriet: „Wie es Regisseurin Martha Mechow hier schafft, durch ihren poetisch-verspielten Umgang mit Sprache und Text, mit Sprechen, Verfremdung, mit Irritation und Musik eine audiovisuelle Skulptur zu komponieren, die mal leichtfüßig ist, mal verkopft, mal poetisch, albern, dann wieder ernst, aber immerzu lebendig, hat uns begeistert“. Fazit: „Wir sind der Stimme einer neuen Regisseurin gefolgt, die ihren eigenen Weg sucht und uns mit dieser Suche neugierig gemacht und begeistert hat“, urteilte die Jury.
Für Helin Çelik ist es der zweite Film und ihre erste Solo-Regie. Die kurdische interdisziplinär arbeitende Künstlerin, die in Wien lebt, erhielt für „Anqa“ den Großen Diagonale-Dokumentarfilmpreis. Darin enthüllen drei Generationen von Frauen in einem jordanischen Zufluchtsraum ihre Gewalterfahrungen. Die Jury begründete ihre Wahl so: „Zwischen Traum und Phantasma verharrt die Realität im Stillstand. Spinnweben künden von der angehaltenen Zeit in einem abgelegenen, lichtgedämpften Zufluchtsraum in Jordanien, in dem drei Frauengenerationen nach und nach ihre Erfahrungen von Gewalt enthüllen. In ruhigen Bildern und extremen Naheinstellungen schafft die Regisseurin eine intime Nähe zu ihren Protagonistinnen, kriecht förmlich unter ihre Haut. Auch Sarah Fattai wurde für „Anqa“ für die beste künstlerische Montage in einem Dokumentarfilm ausgezeichnet. Die Regisseurin widme ihren Preis allen Protagonistinnen in ihrem Film, mehr noch „allen Frauen, die im Nahen Osten für die Freiheit kämpfen.“ Und: Es sei berührend gewesen, ihre Muttersprache Kurdisch heute schon auf der Bühne gehört zu haben.
Die Zukunft des österreichischen Films ist divers
Die Entscheidungen der Jurys fielen in diesem Diagonale-Jahrgang unkonventionell aus. Viele junge Filmemacherinnen und Filmemacher wurden ausgezeichnet; viele davon erzählen Geschichten, die ihren Blick über die Grenzen Österreichs wenden. Bernd Hetzenauer untersucht in „Those Next To Us“ den Blood Meridian des US-Südwestens und die Geschichte einer Flucht ins Paradies und erhielt dafür den Preis für den besten Kurzdokumentarfilm. Bernhard Wohlfahrter begleitet in „Glückstag“ den Pensionisten Gerd, der sich seinen Weg durch München bahnt und Flaschen sammelt. Florian Kofler und Julia Gutweniger haben eine Saison lang in „Vista Mare“ hinter die Kulissen des Massentourismus an der oberen Adria geblickt und erhielten dafür den Preis für die beste Bildgestaltung sowie für das beste Sounddesign in einem Dokumentarfilm. Und Sallar Othmans Film „Yarê“ ist ein Hilferuf über Wassernotstand in der vergessenen kurdischen Autonomieregion Rojava im Norden Syriens. Ganz schön international das österreichische Kino.