Casper hat Hunger. Casper hat Angst. Der kleine Junge, der das sagt, hält sich die Ohren zu, während seine Schwester Rose ziemlich unerschrocken mit dem Karabiner-Gewehr auf Lucky Luke zielt. Der Westernheld hat kurz davor ihren Bruder Rufus beim Sheriff abgeliefert – über die verwandtschaftlichen Verhältnisse weiß Luke zu diesem Zeitpunkt noch nicht Bescheid. Eltern findet der einsame Cowboy in der Hütte nicht vor, nur zwei hungrige Kinder. Luke nimmt die beiden Kinder mit zum Sheriff, um Rufus wieder aus dem Kittchen zu bekommen. Rose protestiert laut, während Casper nahezu apathisch wirkt. Doch der Sheriff ist ein Mann des Gesetzes und kann Luke diesen Gefallen nicht erweisen.
Von der Parodie zum Realismus
Damit beginnt für Lucky Luke nicht nur ein Abenteuer auf der Suche nach den Eltern von Rose und Casper, sondern er stößt immer wieder an die Grenzen seiner Belastbarkeit: Rose ist kaum zu bändigen und Casper scheint schwer traumatisiert zu sein. „Die Ungezähmten“ ist der sechste Band einer Reihe von Lucky Luke-Alben, die unter dem Titel „Hommage“ firmieren. Während die klassischen Alben ihren Erfolg aus der Westernparodie schöpfen, dürfen die „Hommage“-Titel auch um einiges realistischer sein. Der aus Strasbourg stammende Comic-Künstler Christian Hincker alias Blutch schickt Lucky in ein weniger parodistisches Abenteuer – gleichzeitig gelingt es ihm dabei, den Humor der Lucky Abenteuer zu bewahren. Luke darf in den Hommage-Bänden auch anders aussehen, die bekannten Attribute bleiben jedoch: Luke zieht noch immer schneller als jeder andere und reitet am Ende mit seinem treuen Gefährten Jolly Jumper dem Sonnenuntergang entgegen.
Was man sieht, ist, dass Kinder in der Welt des Wilden Westens völlig ausgeliefert waren: Luke hat alle Hände voll zu tun, die Kinder an verschiedenen Orten unterzubringen. Die Geschichte von Casper wurde leider zu wenig ergründet, weil Blutch die Handlung vorantreiben will. Zwar machen die abwesenden Eltern, die gleichzeitig Kriminelle sind, das Verhalten des Jungen schlüssig, doch hätte der französische Autor und Zeichner die Geschichte dieses so auffälligen Jungen konsequenter herausarbeiten müssen. Zumindest der Name lässt vermuten, dass er auf das Kaspar-Hauser-Syndrom hinweisen wollte – eine der schwersten Formen von Hospitalismus, bei dem Kinder unter anderem durch massive Vernachlässigung ihr ganzes Leben darunter leiden. Und Luke sieht sich dabei konfrontiert mit einer Wildwest-Gesellschaft, die die Kinder einfach nur weiterreicht – niemand will verantwortlich sein.