Wer möchte nicht einmal seine Eltern als junge Menschen kennenlernen? Genau diese imaginäre Zeitreise macht Adam, als er sich von London aus in den Vorstadtzug setzt und das Haus seiner Kindheit aufsucht. Seine Vorgeschichte erzählt er uns nicht. Nur dass seine Eltern starben, als er 12 war. Vermutlich ist er nach langer Abwesenheit nach London zurückgekommen. Dort arbeitet er als Drehbuchautor und ist in einer Art Lockdown-Stimmung gefangen. Jedenfalls ist er dort einer der wenigen Bewohner seines neuen Apartment-Blocks. Einer der anderen ist der jüngere Harry, der ihn mit einer Flasche Whisky in der Hand zu mehr als einem nachbarschaftlichen Kennenlernen verführen will. Zwei einsame Seelen in der Nacht.
Diese zwei Erzählstränge, zwei Zeitebenen, zwei Orte sind die Pole von „All of us Strangers“. Das leere, kalte Apartment in der Stadt und die nostalgische Wärme des Häuschens aus der Kindheit. Die ferne Vergangenheit und die Gegenwart mit der Hoffnung auf eine Zukunft.
Regisseur Andrew Haigh ist mit seinen bisherigen Filmen nicht gerade als Frohnatur bekannt geworden. Das trifft auch auf sein neuestes Drama zu, das sich den Kern der Geschichte aus dem Roman „Strangers“ von Taichi Yamada aus dem Jahr 1987 holt. Doch wie schon in seiner intensiven 48-Stunden-Romanze „Weekend“ stellt der Brite Haigh eine unglaubliche Intimität zwischen seinen Figuren her. Diese raue Ehrlichkeit kann schmerzlich sein, erlaubt seinen Filmen aber auch eine andere Art Pathos ohne Kitschgefahr. Gerade bei der Aufarbeitung eines Kindheitstraumas ist diese Sensibilität essenziell. Da passt dann sogar der Song „Always on My Mind”.
Viel hängt dabei auch an den Schauspielenden. Für Haighs großartigen Berlinale-Film „45 Years“ erhielt Charlotte Rampling einen Bären und eine Oscar-Nominierung. Bei der britischen Produktion „All of us Strangers“ ist Hauptdarsteller Andrew Scott für die Oscars übergangen worden. Sein Zusammenspiel mit Nachbar Paul Mescal und seinen Eltern Claire Foy und Jamie Bell ist einfach großartig.
Viel mehr braucht es oft nicht für einen starken kleinen Film, der weiß, welche Stimmung er erzählen will. Vielleicht noch die satten Bilder des analogen Filmmaterials und ein Soundtrack, der die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt. Wenn dann am Ende des Films „The Power of Love“ von Frankie Goes to Hollywood auf dem Plattenspieler in Adams Wohnung läuft, ist die schmerzliche Erlösung perfekt.
Bewertung: ●●●●○
Marian Wilhelm