Bis spät in die Nacht wurde am Samstag nach der Kulturhauptstadt-Eröffnung im bitterkalten Kurpark und im Pfarrsaal von Bad Ischl noch getanzt, zu Acts wie Camo & Krooked, Cid Rim, Misonica. Wurde in der Trinkhalle, in Wirtshäusern und Kirchenräumen Musik aus allen Richtungen gemacht, und vor der Johann-Nestroy-Schule lud Clara Luzia das Publikum ein, den Mond anzuheulen.
Müdigkeitserscheinungen blieben nach dem langen Eröffnungstag aber offenbar aus. Am Sonntag platzte - nach einem zünftigen Frühschoppen mit dem Trachtenverein D’Ischler im Pfarrsaal - beim „Katerfrühstück“ in den Stallungen der Kaiservilla der auf 200 Gäste ausgerichtete Saal aus allen Nähten und musste ins Freie erweitert werden, als Herfried Münkler in einem „Welt-Salon“ mit dem Autorinnentrio Aleida Assmann, Nava Ebrahimi und Fiston Mawanza Mujila über über Putins Angriffskrieg, Spaltungen und Ressentiments sprach, über jene„Abfolge von Krisen“ also, mit denen „die Europäer nicht gut zurecht kommen“, die sie aber bestehen müssten – „oder es wird keine EU mehr geben.“
Nachdenkliche Töne an einem Wochenende, das sich ansonsten durchwegs dem Festlichen ergab. 10.000 bis 15.000 Neugierige sollen es gewesen sein, die dem Ruf der Kulturhauptstadt folgten und in Ischl ein Auftaktprogramm geboten bekamen, das jeden Gusto bediente, Volksmusik und zeitgenössische Orgeltöne, Elektrosounds ebenso wie Werke des oberösterreichischen Jahresregenten Anton Bruckner. Mit Hubert von Goisern und Conchita Wurst zwei unorthodoxe „Hiesige“ zu den Hauptacts der Eröffnung zu machen, war klug programmiert.
Pudelnackter „Pudertanz“
Dass das Eingängige und das Sperrige auf einem Tablett serviert werden, ist bei solchen Anlässen obligatorisch, der pudelnackte „Pudertanz“ der Choreografin Doris Uhlich und ihrer zehnköpfigen inklusiven Tanztruppe auf der Hauptbühne, eine rasante Körperfeier mit – ja tatsächlich: Bestäubung aus Puderdosen - von den einen frenetisch gefeiert, von anderen mit erheblicher Irritation registriert, wird in Ischl und eventuell noch länger diskutiert. Das ist wohl durchaus im Sinne Elisabeth Schweegers – die künstlerische Leiterin der Kulturhauptstadt macht kein Hehl daraus, dass sie mit ihrem Programm in der Region Staub aufwirbeln und abschütteln will.
Das ist ihr wie berichtet schon vorab gelungen, ihr Programm sorgte für Diskussionen. Sie sei zu wenig integrativ, nicht partizipationsorientiert genug, wurde ihr vorgeworfen. Im geplanten Höhepunkt des Eröffnungsabends, der Oscar-Straus-Operette „Eine Frau, die weiß, was sie will“ bilden sich die Konfliktbahnen gut ab: Der jüdische Komponist Straus, 1939 ins Exil gezwungen, ist mit Ischl eng verbunden, er hat hier gelebt und ist sogar auf dem Ischler Friedhof begraben. Ein klarer Fall also Schweeger, die in der langjährigen Verdrängernation Österreich der „Erinnerungskultur“ eine eigene Programmschiene widmet. Aber man kreidete ihr an, dass sie eine zehn Jahre alte Produktion der Komischen Oper Berlin ankaufte, obwohl Ischl mit seinem Lehár Festival ohnehin über höchst erfolgreiche, auch künstlerisch interessante Operettenfestspiele verfügt.
Lag es daran, dass am Sonntagnachmittag für die zweite und letzte Vorstellung in der nüchternen Kongresshalle noch gut ein Drittel der Karten zu haben war? Das wäre schade, denn Barrie Koskys Inszenierung ist eine temporeiche, witzige Revue, deren mehr als 20 Rollen von nur zwei grandiosen Darstellenden gespielt und gesungen werden: Dagmar Manzel und Max Hopp treten beide sowohl in Frauen- als auch Männerrollen auf; wer will, kann darin auch einen verschmitzten Beitrag zur Genderfluidity-Diskussionen unserer Tage sehen.
Dass das Eröffnungswochenende für Ischl und seine 22 Partnergemeinden im Rahmen der Kulturhauptstadt „ein gehörig positives Momentum erzeugt hat, das in den nächsten Wochen und Monaten gut weiterwirken wird“, wie der steirische Ladneshauptmann Christopher Drexler nach seinem Besuch in Ischl meint, ist jedenfalls glaubhaft, auch wenn das Gros der 300 Hauptstadt-Projekte erst im Frühjahr und Herbst steigt – übrigens nicht ganz zur Freude der Touristiker, die auf einen Schwerpunkt in der Sommer-Hochsaison gehofft hatten.
Zukunft mit Fleischknödeln
Etliche langfristige Projekte sind aber auch jetzt in Ischl zugänglich. Darunter ein „Wirtshauslabor“ am Bahnhofs, in dem Haubenkoch Chirstoph „Krauli“ Held und Schüler der Tourismusschule die Zukunft der Wirtshauskultur praktizieren (sie umfasst, was viele freuen wird, Fleischknödel mit Sauerkraut und Altbiersaftl). Marusa Sagadins Installation „Luv Birds in toten Winkeln“ im Postgebäude (bis November), Winfried Ritschs 2019 erstmals im Grazer Kunsthaus gezeigtes Musikexperiment „Ballet Mécanique“ nach George Antheil (bis April) und die großartige Ausstellung „kunst mit salz und wasser“ im ehemaligen Sudhaus der Salinen.
Der ehemalige Leiter von Oberösterreichs „Festival der Regionen“, Gottfried Hattinger, hat für den notdürftig adaptierten Leerstand eine bis Oktober geöffnete Schau kuratiert, die ihren faden Namen (Salinen-Chef Hannes Androsch fand den Ursprungstitel „Salt Lake City“ zu experimentell) in vielerlei Hinsicht überstrahlt – und zeigt, wie ein Kulturhauptstadtprogramm Gewicht kriegt. Nicht nur, weil für die durchwegs beeindruckenden Arbeiten von Künstlerpersönlichkleiten wie Christine Biehler, Hicham Berrada, Norbert W. Hinterberger, Michael Sailstorfer, Simon Starling, Anna Run Tryggvadottir und Motoi Yamamoto mehr als neun Tonnen Salz verbaut wurden, sondern vor allem, weil sie eine traditionelle regionale Ingredienz in ein ganz anderes Medium - die Kunst – übersetzt.
Ute Baumhackl