Er gehört zum Neujahrskonzert wie der „Donauwalzer“: Der „Radetzky-Marsch“ beschließt seit Jahrzehnten das Programm, das vom Konzert aufgewühlte Publikum klatscht fröhlich mit – inklusive Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Doch nicht wenige empfinden ein Unbehagen an diesem Musikstück: Ist ein zackiger Militärmarsch in Zeiten, wo sich jeder nach Frieden sehnen muss, bedenkenlos zu hören? Außerdem ist der Widmungsträger des Marsches eine historisch ambivalente Figur. Josef Wenzel Radetzky von Radetz war der Befehlshaber, der 1848 die italienischen Unabhängigkeitsbestrebungen vorerst zerschlug. Er besiegte die italienischen Nationalisten und die Armee von Piemont/Sardinien in mehreren Schlachten und eroberte die Lombardei zurück. Fast zeitgleich passierten in Wien Massaker an österreichischen Aufständischen. Der Marsch von Johann Strauß Vater war dem Feldherren und der kaiserlichen Armee gewidmet. Etwa 100 Jahre später wurde das Stück zum fixen Bestandteil des Neujahrskonzerts.
Schon lange werden immer wieder Zweifel angemeldet, ob der „Radetzky-Marsch“ tatsächlich noch in dieses weltweit im Fernsehen und Radio ausgestrahlte Konzert passt. Eva Blimlinger, Kultursprecherin der Grünen, stieß zum Jahreswechsel wieder eine Diskussion auf X (vormals Twitter) an: „Tradition wird hochgehalten bei den Philharmonikern und dem Publikum des Neujahrskonzerts, weil’s halt immer so schön ist, das Klatschen, Huldigung für den Sieg über Piemont und der k. k. Armee über die Wiener Bevölkerung in der ,Praterschlacht‘. #Radetzkymarsch in Zeiten der Kriege.“
Auf Anfrage präzisiert Blimlinger: „Es ist ein Siegesmarsch, der Radetzky feiert, und eine Huldigung der k. k. Armee, die kurz vor der Uraufführung viele Zivilisten getötet hat.“ Den Einwand, dass diese Ereignisse 176 Jahre her sind, hält sie für nicht relevant. Nur weil es lang her ist, heiße dies nicht, dass es nicht passiert sei. „Ich bin sicher, dass die Philharmoniker den Marsch weiterspielen, aber ich denke, man muss auf die historischen Zusammenhänge hinweisen. Und es ist auch die Frage, ob Militärmärsche in unseren Zeiten, wo ein paar hundert Kilometer weiter Krieg ist, zum Neujahrskonzert passen.“
Kommentar
Dauerdebatte um Historisches
Tatsächlich gibt es seit Jahren heftige Diskussionen um die Kontextualisierung von historisch Belastetem: um Straßennamen, Statuen, Markenlogos, Kunstwerke usw. Scheinbar nebensächliche Debatten, die aber überraschend scharf und heftig geführt werden. Vermutlich auch, weil man daraus links und rechts (Stimmen-)Kapital schlagen kann. Und weil man im Netz so gut aufeinander losgehen kann. Wo die einen „woke“ Cancel-Culture anprangern, bestehen die anderen darauf, dass man auch (liebgewonnene) Traditionen befragen darf. Die berühmten Gräben der Gesellschaft, am „Radetzky-Marsch“ werden sie wieder sichtbar.
Wobei der „Radetzky-Marsch“ schon lange Thema ist, vor allem weil man bis vor wenigen Jahren eine sehr alte Orchesterbearbeitung eines NSDAP-Mitglieds namens Leopold Weninger spielte. 2019 tauschte man Weningers Bearbeitung (die ohnehin schon zigfach überschrieben und geändert worden war) aus. Tatsächlich waren aber auch die Neujahrskonzert-Dirigenten nicht immer ganz glücklich mit dem Stück. Der legendäre Carlos Kleiber war gegen das Mitklatschen, auch Franz Welser-Möst hat keine wirkliche Freude daran.
Zum Neujahrskonzert
Was tun mit also mit solcher Musik? Historiker Helmut Konrad: „Ich denke, der ,Radetzky-Marsch‘ ist mittlerweile Kulturgut und hat nichts mehr mit Italien zu tun. Ich wundere mich zwar immer, dass auch Italienerinnen und Italiener beim Konzert freudig mitklatschen, aber es ist die Schneekugel unter Stücken: Einmal im Jahr will sie geschüttelt werden.“ Konrad bezweifelt, dass diese Musik jetzt noch wirklich jemandem weh tut, und fordert „mehr Gelassenheit“: „Wo fangen wir an, wo hören wir auf? Dann müssten wir auch die Musik von Giuseppe Verdi und Richard Wagner kritisch infrage stellen.“
Die Wiener Philharmoniker haben keine große Lust auf die Diskussion, auf Anfrage wollte man sich nicht dazu äußern und verwies auf die Änderungen aus dem Jahr 2019. In der Kulturwelt gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen. Ulrich Lenz, Intendant der Oper Graz, kann gut mit dem Verzicht auf den „Radetzky-Marsch“ leben, Aron Stiehl, Intendant des Stadtheater Klagenfurt, hält von einer Cancel Culture nichts: „Ich neige dazu, der großartigen Musik zu vertrauen.“ Man darf sicher sein: Auch 2025 wird wieder diskutiert werden.