Marianne Fischer
Event. Heimische Literatur in geballter Kraft: Der Gastland-Auftritt von Österreich auf der Leipziger Buchmesse war bunt, umfangreich, originell.
Buch. Der Briefwechsel zwischen der Dichterin Christine Lavant und dem Maler Werner Berg ist das Herzstück einer berührenden biografischen Annäherung an die vor 50 Jahren verstorbene Autorin (Klaus Amann: „Ich bin maßlos in allem“).
Oper. Packende, umjubelte Uraufführung im Stadttheater Klagenfurt: Bernhard Lang (Musik) und Michael Sturminger (Text, Regie) haben mit „Hiob“ die alttestamentarische Geschichte in die Gegenwart geholt.
Martin Gasser
Buch. David J. Chalmers „Realität+“ (Suhrkamp) ist eine Reise durch die Philosophie und eine Attacke auf den Hausverstand. Vielleicht ist alles anders, als wir glauben.
Opernaufführung. Ex aeqo das von vier Teams inszenierte Theaterfest „Hoffmans Erzählungen“ in Graz und die nachdenkliche „Il Ritorno d‘Ulisse in Patria“ in der Regie von Jossi Wieler und Sergio Morabito in der Wiener Staatsoper.
Sängerin. Turandot in Wien, Lady Macbeth in Salzburg: Asmik Grigorian
Album. Der zu früh verstorbene Pianist Lars Vogt spielt die Mozart-Konzerte KV 271 und 491. Melancholie und Poesie (Ondine).
Daniel Hadler
Buch. Sein erster („Nicht wie ihr“) war klug und witzig, der zweite Roman („Echtzeitalter“) von Tonio Schachinger ist nahbare und dabei ungemein feine Literatur.
Theater. Persönliches Erlebnis des Jahres war „Der kaukasische Kreidekreis“ in Salzburg. Ein ästhetisch und emotional berührendes inklusives Glanzstück.
Freies Theater. Harte Schale, lässiger Kern, dazu selbstironisch und kraftvoll in jeder Sekunde: Simon Windischs „Erwachsenenbeschimpfung“ (TaO! Graz) hatte eine selten im Theater erlebbare Energie.
Streaming. Keine Serie, die im Herzen mehr berührte als diese: „The Bear II“ (Disney+).
Erwin Hirtenfelder
Buch. „Liebe in Zeiten des Hasses“ von Florian Ilies und Tim Marshalls „Macht der Geografie im 21. Jahrhundert“ gehörten zu den erhellendsten Lektüren des Jahres.
Oper. „Die griechische Passion“ und „Macbeth“ waren Salzburger Höchstkulturerlebnisse, die nur von der Klagenfurter „Götterdämmerung“ übertroffen wurden.
Kunst. Womit wir bei den Provinzgenies Oskar Kokoschka und Herbert Boeckl wären, denen noch bis 17. März eine „Rivalen“-Schau in der Wiener Albertina Modern gewidmet ist. Jean Egger (Lentos Linz) und Michael Armitage (Kunsthaus Bregenz) sind leider schon passé.
Bernd Melichar
Buch. Eine schräge Story rund um eine Buchhandlung und eine Liebeserklärung an die Literatur. Der Roman „Jahr der Wunder“ der US-Autorin Louise Erdrich ist aufrichtig, kämpferisch, humorvoll.
Konzert. Ja, ich weiß, das Stones-Konzert war schon 2022, aber es war so großartig, dass es für mich ins Jahr 2023 hineinstrahlt. Dass sie unkaputtbar sind, beweisen sie seit 60 Jahren. Aber dass noch so viel Vitalität in ihnen steckt, war eine Überraschung. Das Konzert der Rolling Stones im Happel-Stadion war die Anti-These zum Etikett Rollator-Rock.
Album. Dass die Stones mit „Hackney Diamonds“ auch noch ihr bestes Studioalbum seit Jahrzehnten ablieferten, hat kaum jemand mehr erwartet. Satisfaction pur.
Ute Baumhackl
Theater. Die späte Uraufführung von Christiane Schlegels „Von einem Frauenzimmer“ (1778) bescherte der neuen Grazer Theaterchefin Andrea Vilter einen Auftakt-Coup.
Ausstellung. Überfällig: „ANA“ würdigte im Grazer Bruseum Anna Brus als zentrale künstlerische Partnerin der Wiener Aktionisten.
Film. „All the Beauty and the Bloodshed“. Nan Goldin legt sich in Laura Poitras‘ hinreißender Doku mit der Pharmadynastie Sackler an.
Album. Bipolar feminin, „Ein fragiles System“.
Blamage. Die Salzburger Festspiele entlassen das gesamte „Jedermann“-Team – beschämend unprofessionell.
Susanne Rakowitz
Buch. Bring No Clothes. Charlie Porter schaut in die Kleiderschränke der Bloomsbury Group rund um Virginia Woolf, und zeigt eindringlich, wie politisch Mode sein kann.
Kunst. Isa Genzken: 75/75 (Neue Nationalgalerie, Berlin). Sie haben Ecken, Kanten, sind unförmig oder stilsicher wie Nofretete – die Skulpturen von Genzken sind Hommagen an die Körperlichkeit und Spiegelbilder der Gesellschaft.
Kino. Wes Anderson zelebriert mit „Asteroid City“ große Melancholie unter gleißender Sonne. Alienbesuch inklusive!
Streaming. Succession, Staffel 4, Serienfinale. Was sonst?
Discokugel. „Dance The Night“ von Dua Lipa. Tanzen, jetzt!
Christian Ude
Buch. Die Liebe an miesen Tagen“ von Ewald Arenz. Diese Geschichte berührt auch an guten Tagen.
Klassik/Ballett. „Orlando“ von Marguerite Donlon an der Oper Graz. Spitze! Diese Bilder bleiben.
Streaming. „(I am) Robbie Williams (Netflix). Kein anderer Popstar hat sich öffentlich durch 30 Jahre Archivmaterial gearbeitet.
Konzert. The Schick Sisters mit Opus Band. Handgemachte Musikfreude.
Album. „Babyblue“ von Annett Louisan. Singt mir aus dem Herzen.
Popstimme. Remo Forrer (der 22-Jährige vertrat die Schweiz im Mai beim ESC).
Julia Schafferhofer
Theater. Superheldinnenshow, die sich nackt wider das Patriarchat aufbäumt: Florentina Holzingers preisgekrönte Performance „Ophelia‘s Got Talent“ im Volkstheater war eine Klasse für sich.
Kino. Radikal und feministisch: Giorgos Lanthimos‘ Frankenstein-Fabel und Venedig-Siegerfilm „Poor Things“ ist phänomenales Überwältigungskino. Ab 19. 1. zu sehen.
Kunst. Renate Bertlmann stemmt sich in ihrer ersten großen Retrospektive im Belvedere 21 zärtlich und zornig gegen die Phallokratie.
Idee. Das Nonstop-Abo. Einmal zahlen, unbegrenzt ins Programmkino. Mehr als 4300 Leute nutzen es bereits. Yeah!