„Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht einmal, ob heute wirklich der fünfte November ist.“ Mit diesen Sätzen, die bereits eine ungeheure Bedrohlichkeit und auch Hilfslosigkeit ausstrahlen, beginnt der Roman „Die Wand“, der, 1963 erschienen, zum Hauptwerk der oberösterreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer (1920-1970) gehört. Gerne wird das Buch als Dystopie gelesen, als beklemmendes Protokoll des Endes der Welt, aber wie in allen Büchern Haushofers geht es auch hier eher um die Wand, die mitten durch das Innere des Menschen führt und ihn von der Außenwelt trennt. Tiefe Einsamkeit und Isolation sind die Hauptzutaten im Werk dieser großen Schriftstellerin, deren Werk lange Zeit von dumpfen Geistern als „Frauenliteratur“ verunglimpft wurde.
Nun gibt es eine neue Chance, diese oft sträflich unterschätzte Autorin zu entdecken, denn endlich liegt ein Marlen-Haushofer-Werkausgabe vor. „Eigentlich kann ich nur leben, wenn ich schreibe.“ Dieses Zitat von ihr ziert den Schuber, der sechs Bände und somit alle Romane und Erzählungen Haushofers enthält. „Unter den österreichischen Autorinnen und Autoren, die als Klassiker des 20. Jahrhunderts gelten, war sie die einzige, die noch keine Werkausgabe hatte“, betont die Germanistin, Literaturkritikerin und Haushofer-Biografin Daniela Strigl.
Die Werkausgabe ist sorgsam ediert und jeder Band hat andere Herausgeber, die eine wissenschaftliche Einordung des jeweiligen Buches vornehmen. Ebenfalls äußerst lesenswert sind die Vorworte in den einzelnen Bänden, die von zeitgenössischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern stammen. Clemens J. Setz etwa erklärt Haushofers Erzählungen zum „Herz ihres Werks“, Monika Helfer schreibt in ihrem Vorwort zum Roman „Himmel, der nirgendwo endet“ folgendes: „Während sie Ingeborg Bachmann hinter ihrem Rücken tanzen sah, fühlte sie sich unsichtbar.“ Was damit gemeint ist, erläutert wiederum Daniela Strigl, die Marlen Haushofer „eine buchstäblich gottverlassene Autorin“ nennt, eine „Expertin für die Darstellung der Kluft zwischen Sein und Schein, zwischen Gemütlichkeit und Dämonie.“ Mit der ungleich bekannteren, sechs Jahre jüngeren Kollegin Ingeborg Bachmann habe sie die schonungslose Diagnose über die vergifteten Geschlechterverhältnisse und die muffige Bürgerlichkeit der Nachkriegszeit geteilt, doch ihre Modernität sie nicht auf den ersten Blickt sichtbar, so Strigl.
„Heute, am fünfundzwanzigsten Februar, beende ich meinen Bericht. Es ist kein Blatt Papier übriggeblieben.“ Mit diesen Sätzen endet „Die Wand“.