Also bitte, natürlich wird dieses Trumm von Tanker nicht direkt auf den Strand zufahren: „Kann ja gar nicht sein“, steckt Clay (Ethan Hawke) die Realitäten seiner ihm bekannten Welt ab. Die da heißt: Immer und überall online sein, das fabelhafte Ferienhaus auf Long Island frühmorgens im Netz gebucht, auf der Hinfahrt noch die letzten Arbeiten übers Smartphone erledigt, die Kinder streamen und gamen am Rücksitz. Ahoi, Ferienidylle! Und ja, der Tanker wird auf den Strand zufahren, wird die Idylle crashen und wird die Welt gehörig ins Wanken bringen. Doch es fängt harmlos an, das W-LAN ist weg, das Netz fällt aus, aber hey, wir sind im Urlaub! Bis des Nächtens ein Mann und seine Tochter (Mahershala Ali und Myha’la) vor der Tür stehen: Sie sind aus der Stadt geflüchtet, dort ist die Hölle los – womöglich ein Cyberangriff – und immerhin sei das ihr Haus. Also: Dürfen sie hereinkommen?
Zwischen den vier Erwachsenen, darunter Julia Robert als Clays Ehefrau Amanda, entspinnt sich kammerspielartig ein sich gegenseitiges Belauern. Sind die beiden wirklich die, die sie vorgeben zu sein? Doch wie das kontrollieren, wie recherchieren, wenn man nicht einmal ins Internet kommt? Wer wird gewinnen? Die ultra-misstrauische Amanda oder der auf Konsens und Nachsicht gepolte Clay? Und ist G.H. (Mahershala Ali) nicht zu nett, zu gewinnend, während seine Tochter Ruth (Myha’la) den Bad-Cop gibt? Sind sie echt oder ist das alles nur Fake?
Doch die Prioritäten verschieben sich sukzessive, denn rund um das Ferienhaus beginnt die Welt und mit ihr die Gewissheiten, auf die sich alle stützen, zu bröckeln: Im Wald drehen die Hirsche durch, ein ohrenbetäubendes Geräusch zerreißt ab und an die Stille, Flugzeuge stürzen ab. Wer oder was steckt dahinter? Es gibt Theorien, Vermutungen, aber nichts Genaues weiß man. Mit „Leave the World Behind“ zelebriert Regisseur Sam Esmail (Mr. Robot) das Erschüttern des menschlichen Seins, fügt ganz geschmeidig eine Eskalationsstufe um die andere hinzu und lässt die Folgen gut einwirken. Lässt das wahr werden, was wir als Damoklesschwert gerne ausblenden – was passiert, wenn in eine hochtechnologisierte Welt das Chaos einbricht? Wie sehr haben wir es uns in unserer Welt gemütlich gemacht, und wie lange halten wir krampfhaft daran fest?
Esmail lässt eine ausgewählte A-Riege aus Hollywood im Ausnahmezustand aufeinander krachen. Wenn die Nerven blank liegen, dann schimmern sie durch, die Verlustängste, die Vorurteile, die nackte Angst. Der gern hingeschleuderte Satz: „Alles wird gut“ entpuppt sich schnell als das, was er ist – eine Instant-Hohlphrase, die die eigene Panik überspielen soll. Was der Film, nach dem Roman „Inmitten der Nacht“ von Rumaan Alam, noch schafft: Er lässt uns durch eine Art Membran schauen, die uns im Unklaren lässt und ganz reale Ängste triggert, weil sich eine Frage unangenehm ins Bild drängt – sind wir hier näher an einer möglichen Realität dran als an der Fiktion?
Bewertung: ●●●●○
„Leave the World Behind“ ist auf Netflix zu sehen.