Bereits das Coverfoto sagt mehr als viele Worte. Peter Gabriel greift sich mit beiden Händen an den Kopf oder vielmehr sieht es so aus, als würden die Hände aus dem Kopf wachsen. Das Foto und der Blick des Mannes deuten Gedankenschwere an, Unentschlossenheit, Zaudern und Zögern; all das geschuldet einem immens hohen Qualitätsanspruch. Motto: Besser noch zuwarten mit dem Kunstwerk, noch warten auf das Wachsen und Reifen der Kreativitätsfrüchte, eine Deadline oder Druck seitens der Plattenfirma gibt es schließlich nicht, man ist sein eigener Herr und Meister. Mit allen daraus resultierenden Vor- und Nachteilen. Denn einfach ganz banal zu sagen: „So, Leute, ich hab‘ jetzt einige Songs aufgenommen, die sind ganz gut geworden, hier ist das Album dazu“ – so funktioniert das bei Peter Gabriel nicht.

Hm. Das Schreiben über Peter Gabriel verleitet ganz offensichtlich dazu, selbst auf ausgedehnte Um- und Nebenwege zu geraten. Auch interessant: Das Zubeschreibende färbt auf den Schreibenden ab. Nun, zur Sache: 21 Jahre lang brauchte der große Popeklektiker, für den Sound und Vision und Haltung stets eine Einheit darstellten, um mit seinen neuen Songs herauszurücken. Im Jahr 2002 erschien mit „Up“ das bislang letzte Studioalbum, untätig war der Brite seither freilich nicht. Da gab es die suboriginelle Coversammlung „Scratch my Back“, diverse Compilations, Livealben und Filmmusiken, und schließlich ist der gute Mann auch viel beschäftigter Produzent, Studiobesitzer, und sein Engagement für den Weltfrieden darf man auch nicht vergessen.

Aber jetzt hat jener Mann, der schon Weltmusiker war, bevor es das Wort dazu gab, offensichtlich endlich Frieden mit seinem eigenen Werk geschlossen, es letztendlich für gut befunden – und die neuen Songs in die Freiheit entlassen. Nun, ganz so einfach war es dann doch wieder nicht. Man konnte dem neuen Album nämlich gleichsam beim Wachsen und Entstehen zusehen: Seit Jänner dieses Jahres hat Gabriel jeden Monat einen neuen Track veröffentlicht. Aber natürlich nicht irgendwann, sondern jeweils zu Vollmond. Und da das Jahr nun bald um ist, ist auch das Album komplett. Es trägt den Titel „i/o“, enthält zwölf Songs, weil eben zwölf Monate, und wenn man dann dieses Werk endlich in den Ohren hat, ist die etwas mühsame Veröffentlichungspolitik schnell vergessen.

Ja, klar, das Bild drängt sich auf, aber es ist tatsächlich so: Wie ein „Sledgehammer“, ein Vorschlaghammer, kracht dieses Album in die Umlaufbahn des Plattentellers, denn dort gehört dieses Werk hin. Gleich der erste Song „Panopticom“ und der darauffolgende Track „The Court“ beweisen eindrucksvoll, wie vielschichtig, dynamisch und mühelos „modern“ dieser Künstler ist, dessen Stimme eine sämige Altersreife erreicht hat. Textlich lotet Gabriel gleich zu Beginn den Zustand der Welt aus; konstatiert, dass wir viel wissen, aber gerne mit Anlauf das Falsche tun, kritisiert die allgemeine Entfremdung durch Kommunikationstechnologien. Dennoch wird sich Gabriel im Laufe dieses funkelnden Songreigens nicht als weiterer zeigefingerfuchtelnder Dystopie-Heinzi echauffieren. Vielmehr hofft er auf Resilienz und Restintelligenz der Menschheit sowie auf die Wirkkraft der Liebe. Dass dieser Gedankenpfad – flammendes Plädoyer für Weltfrieden und Toleranz inklusive – mitunter in esoterisch-naiv Gefilde führt, wäre jetzt Sudern auf hohem Niveau.

Mit Manu Katché und Tony Levin hat Peter Gabriel zwei musikalische Kapazunder und langjährige Mitstreiter an seiner Seite, Klangguru Brian Eno hat auch einiges zu regeln auf diesem Vollmond-Album, das sich zwanglos zwischen Groove und Pathos einpendelt. Ausrutscher wie der platte Stadionrocker „Olive Tree“ werden gnädig vergeben, wenn man Großtaten wie das empathiepralle „And Still“, der unlängst verstorbenen Mutter gewidmet, ins Herz rutschen hört. Mit „Live and Let Live“ setzt Peter Gabriel einen spektakulären, opulenten Schlusspunkt unter ein ergreifendes, engagiertes, ambitioniertes Album, das beweist, dass Popmusik für Erwachsene noch immer eine Zukunft hat.

Würde es sich nicht um Peter Gabriel handeln, wäre das jetzt das Ende der Geschichte, aber so: Natürlich gibt es von „i/o“ nicht nur eine Version, sondern zwei Abmischungen: den „Bright-Side Mix“ von Spike Stent und den „Dark-Side Mix“ von Tchad Blake. Die Unterschiede? Marginal und am besten über Kopfhörer feststellbar. Bleibt am Ende nur noch zu hoffen, dass sich Peter Gabriel nicht wieder 21 Jahre Zeit lässt für das nächste Album. Dann wäre er nämlich schon 94 Jahre alt.