Die Hände klammern sich ans Lenkrad, die Autos stauen sich, die ersten Schneeflocken bedecken den grauen Asphalt und nichts geht mehr. Die Winterreifen sind gerade noch zum richtigen Zeitpunkt gewechselt worden. Eigentlich hätte man zu Fuß gehen sollen, aber es schneit und man muss von A nach B, um Geschenke zu besorgen, einmal im Kreis herum und dann wieder nach Hause. Man schwitzt, weil man natürlich die dicke Winterjacke übergezogen hat und während sich das Sichtfeld immer mehr verengt, übertönen George Michael und Andrew Ridgeley von Wham! im selbst gewählten Weihnachtsstress die Geräusche der rollenden Autokolonnen: „Last Christmas, I gave you my heart. But the very next day, you gave it away.“
Das Lied handelt von der letzten Weihnacht, von einer unglücklichen Liebe und einer echten Liebe, die man in diesem Jahr gefunden hat. Seitdem der Song von Wham! am 30. November 1984 veröffentlicht wurde, stürmt er alljährlich irgendwo auf der Welt die Charts. Die Heavy Rotation des Songs treibt auch in sozialen Medien lustige Blüten: Wer am Spiel „Whamageddon“ teilnimmt, muss es schaffen zwischen 1. und 24. Dezember kein einziges Mal den Ohrwurm zu hören. Hört man es doch? Kommt man ins „Whamhalla“ – wo vermutlich den ganzen Tag Glöckchen klingeln und das Lied in Endlosschleife von der Ewigkeit erzählt.
Vergangenheit und Zukunft
Weihnachten ist ein Fest, das in der Rückschau die Geburt Jesu Christi feiert. Gleichzeitig verheißt die Geburt aber auch die Zukunft. „Last Christmas“ ist mit seiner Synthese von Vergangenheit und Zukunft vielleicht gerade deshalb ein so erfolgreicher Song geworden. Viele der heute populären deutschen oder englischen Weihnachtslieder entstanden im kirchlichen Umfeld: Es waren Pfarrer wie Eduard Ebel („Leise rieselt der Schnee“) oder Joseph Mohr, gemeinsam mit dem Schullehrer Franz Xaver Gruber („Stille Nacht“), die im deutschen Sprachraum Liedgut schufen. Englischsprachige Lieder wie „It Came Upon the Midnight Clear“ oder „Little Town of Betlehem“ haben ebenfalls in kirchlichen Kreisen ihren Ursprung und wurden im 19. Jahrhundert durch den Abdruck in Notenbüchern popularisiert. „Man hat im 19. Jahrhundert auch Lieder benutzt, um das Weihnachtsevangelium darzustellen. Die Kirchensprache war ja Latein“, sagt Manfred Riedl, Volksmusik-Experte an der Gustav-Mahler-Privatuniversität Klagenfurt. Im Zusammenspiel von Kirche und Schule entstanden damals viele Lieder: „Waren aber keine Kirchenlieder“, fügt Riedl hinzu, sondern wurden im privaten Bereich gesungen. „Man hat auch Stubenspiele gemacht und die Herbergssuche nachgespielt.“ Dass „Stille Nacht“ so populär geworden ist, so Riedl, hänge auch am Sechsachteltakt: „Auch Wiegenlieder stehen sehr oft in diesem Takt.“
Ella Fitzgerald, Dean Martin, Doris Day, Elvis Presley - sie alle trällerten in der Mitte des 20. Jahrhunderts die alten Lieder von früher oder machten wie Bing Crosby neue Kompositionen wie „White Christmas“ von Irving Berlin populär. „Da spielte auch die Filmindustrie eine große Rolle für die Popularisierung“, sagt Riedl. Und in der Pop-, Rock-, Folk-, Country und selbst in der Jazz-Musik gibt es nur wenige Stars, die kein „Seasonal Album“ – wie man es angelsächsisch gerne nennt – vorzuweisen haben: Rod Stewart, Al Jarreau, Cher (die Grande Dame brachte heuer „Christmas“ heraus), Bob Dylan, John Denver, Whitney Houston, Dolly Parton, Bryan Adams. Die Liste lässt sich so lange wie beliebig fortsetzen. Es gehört zum guten Ton eines populären Musikers am reich gedeckten Gabentisch des Weihnachtsfestes mitzunaschen: „All I Want for Christmas Is You“ von Mariah Carey wird gerne als erfolgreichstes (modernes) Weihnachtslied bezeichnet, es wurde um die 16 Millionen Mal verkauft. „White Christmas“ in der Version von Bing Crosby trägt diesen Titel auch: 50 Millionen Mal verkauft.
Ein ewiger Content
Weihnachten ist ein Longseller, ein ewiger Content: Die biblische Geschichte von der Geburt eines kleinen Jungen in einer Nacht in Betlehem, die Herbergssuche seiner Eltern Maria und Josef oder die Zusammenkunft der Hirten und Sterndeuter vor der Krippe. Heute, als weitgehend kommerzialisiertes und profanes Fest, steckt in jedem noch so oft gespielten Song ein Fünkchen Magie: „Happy X-Mas“ wünschten sich John Lennon und Yoko Ono in ihrem genialen Antikriegs-Song 1971. „So this is Christmas. And what have you done?“ Wir erfahren im Stau auf der Straße, am Glühweinstand in Weihrauch getränkter Luft und im Kreis der Familie versammelt, wohl doch in jedem Weihnachtslied etwas mehr als Kommerz, Kitsch und die Ablenkung vom Wesentlichen. Wir wünschen uns Stille, Freude, Friede. Da ist gar nichts schlecht daran.
Die besten und schrecklichsten Songs
Einen Überblick über gute und nicht so gute Weihnachts-Songs finden Sie hier.