Wie nie zuvor findet die Krise in Nahost ihren Widerhall auf den sozialen Netzwerken. Ein Propagandakrieg mit Plattformen als Waffen und Followern als Gewehrkugeln. Ein mitunter unüberblickbares Chaos mit gefährlichen Querschlägern eines modernen Wilden Westens. Außer Rand und Band, aber nie intentionslos. In dieser Konstellation spielt jede Plattform ihre eigene Rolle, zu oft nach eigenen Regeln.
Dabei wäre in der Propagandaschlacht der euphemistischen Likes und Herzchen die Zurückhaltung in der Berichterstattung weiterhin Gold. Bloß: Die Deutungshoheit gehört hier dem Lautesten. Nur Minuten nach der Explosion an der Al-Ahli-Klinik in Gaza-Stadt am Dienstagabend prägte die Hamas mit Bildern, Videos und einer klaren Message das Narrativ: 500 Tote. Allzu Brutales verbreitete sich auf Telegram, anderes auf TikTok oder Twitter. Selbst Instagram dient als Bühne: „Eye on Palestine“ ist einer der Kanäle, die im Informations- beziehungsweise Propagandakrieg auf eine Millionen-Reichweite setzen können.
Wahrheit holt Lüge nicht ein
Israel legte später glaubwürdige Gründe vor, dass es sich „um einen fehlgezündeten Raketenabschuss der Terrororganisation Islamischer Dschihad handelte“. Die unabhängige Klärung muss vorerst ausbleiben. Im impulsgetriebenen und hochgetakteten Propagandakrieg wirkt die journalistische Art der Klärung per Recherche vermeintlich als eine wenig erhebliche Nebensache. Ohnehin gilt: Die Wahrheit holt die Lüge auf diesen Plattformen nicht mehr ein.
Soziale Netzwerke bilden in dieser Situation Blasen unterschiedlicher Charakteristik, je nach Regulierungsgrad und Struktur. X (Twitter) kommt durch den Faktor Musk eine Sonderrolle zu: Fake News und Gewalt darstellende oder verherrlichende Postings haben auf X mehr Freiheiten, seit der Milliardär am Ruder ist. Der jüngste Lackmustest fiel desaströs aus und hatte einen Fragenkatalog der EU zur Folge. Mit dem Digital Services Act (DSA) hat EU-Kommissar Thierry Breton dort endlich einen tauglichen Hebel, der auch bei Meta und TikTok umgelegt wurde. Letzteres erwies sich bei den jüngsten Ereignissen als Brandbeschleuniger: Tausende Liveübertragungen und Videos von Gewaltexzessen fütterten auf Emotionen ausgelegte Algorithmen. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine ist es der nächste TikTok-Krieg.
Last und Macht der Follower
Zwar hat Mark Zuckerberg für Facebook einen Brief von Breton kassiert, aber Instagram werkelt bislang noch ohne Verfahren weiter. Auf den ersten Blick ist die heile Welt auf der Wohlfühlplattform noch intakt. Das mag vor allem daran liegen, dass sich viele Superstars und Prominente nie öffentlich zu den Terrorattacken auf ihren Instagramseiten geäußert haben. Warum, ist klar: Mit einer eindeutigen politischen Positionierung könnte man schlagartig Dutzende Millionen Follower verlieren. Wäre man etwa Fan von Kylie Jenner (399 Millionen Follower), Beyoncé (318 Millionen), Taylor Swift (274 Millionen) oder auch Cristiano Ronaldo (608 Millionen), dann hat deren Hochglanzwelt noch keine Kratzer abbekommen – oberflächlich zumindest.
Wer jedoch nicht grundsätzlich bei seinem Account die Kommentarfunktion deaktiviert hat – wie etwa Taylor Swift –, dessen Kommentarspalten werden seit Tagen mit Proteststimmen geflutet. Klar in der Überzahl sind hier die „#free palestine“-Unterstützer. Ob sich Cristiano Ronaldo, der derzeit in Saudi-Arabien spielt, die Kommentare zu löschen traut? Sicher nicht!