Skandalträchtig. Wenigstens eine Produktion in diesem steirischen herbst hat dazu das Zeug.* Intendantin Veronica Kaup-Hasler hat es jüngst bei der Programmpräsentation versprochen. Augenzwinkernd zwar, aber es hilft halt nichts: Der steirische herbst muss skandalös sein. Sonst gilt er nicht. Zumindest sehen das jene so, die seit jeher nicht hingehen.
Natürlich könnte man 50 Jahre steirischer herbst in Skandalen erzählen. Ist ja im Nachhinein auch amüsant: Anekdoten von damals, 1975, als eine ORF-Ausstrahlung von Wolfgang Bauers „Gespenstern“ einen Bürgeraufstand mit Unterschriftenaktion heraufbeschwor.
Von damals, 1981, als der Rechtsextremist und Vorsitzende der Grazer „Bürgerinitiative gegen Religionsverhöhnung, öffentliche Perversität und Steuergeldverschwendung“, Herwig Nachtmann, vor einer Ausstellung von Hermann Nitsch im Kulturhaus eine Fuhre Mist ablud. Von damals, 1988, als eine das Grazer Zentrum beschallende Klanginstallation von Bill Fontana zu Sabotageakten an den Lautsprecherkabeln und vorzeitigem Projektende führten. Oder von damals, 1998, als Christoph Schlingensief Bettler öffentlich wettsitzen und Geld (Steuergeld!) aufs Publikum regnen ließ.
Steuergeld. Die Skandalträchtigkeit des Festivals ist in den letzten Jahren eher verebbt, gern richtet sich Empörung aber nach wie vor gegen die Kosten der Kunst. Brave Steuerzahler gegen verwöhnte Kunstelite: Das ist der Faden, aus dem populistische Erzählungen gesponnen werden. Die Verwendung von Steuergeld für Kultur ist die letzte Transgression, die noch Gemüter erregt.
Das war in den frühen herbst-Jahren anders, da stand das Festival verlässlich für: Nackerte! Obszönitäten! Blasphemie! Der ursprüngliche Kunstskandal beruht ja auf der Überschreitung von Normen, er fordert den gesellschaftlichen Konsens heraus - speziell dort, wo Religion eine starke Rolle spielt und Sex entsprechend tabuisiert ist.
In der steirischen Nachkriegsgesellschaft hatte sich 1959 das Forum Stadtpark gegründet, in dem junge Kulturschaffende sich aufmachten, die drückende Enge der Provinzstadt zu sprengen. Der steirische herbst, 1967 initiiert, ein Jahr später offiziell installiert, war dafür das perfekte Instrument. Seinem Gründervater, dem ÖVP-Kulturlandesrat Hanns Koren, ging es beim herbst um „die besten im Lande möglichen Leistungen, die aus ihm selbst hervorgebracht werden können, und die im gleichen Rahmen den künstlerischen Darbietungen und wissenschaftlichen Veranstaltungen aus anderen Nationen als Ergänzung und im Wettstreit gegenübergestellt werden sollen“.
Ein Konfrontationsapparat
Rasch aber zeigte sich: Das Festival fungierte vor allem als Konfrontationsapparat, drückte Grenzen auf in ungekannte Bereiche wie Performance, Medienkunst, Video, experimentelle Architektur, Tanz, Neue Musik, Kunsttheorie. Und nicht ihre Interpreten standen dabei im Mittelpunkt, sondern ihre Schöpfer. Wahrscheinlich hat auch das die bürgerliche Öffentlichkeit in den Anfangsjahren des herbsts so irritiert: Das Festival verlangte nicht bloß die Auseinandersetzung mit der holden Kunst, sondern auch die mit ihren Urhebern, die da aus den Kellern der Avantgarde ins freundliche Licht der Festivalscheinwerfer kletterten.
Das zumindest ist dem nach fünf Jahrzehnten etablierten Gegenwartskunstfestival nach vielen, nicht immer geglückten Häutungen geblieben: der Fokus auf die Künstlerinnen und Künstler. Und was für welche. Pasolini, Beckett, Boulez, Ionesco, Ligeti, Bernhard, Jelinek, Grass, Tabori, Schwab, Pandur, Kippenberger, Kentridge, Neuwirth, Castellucci, Ingvartsen: Alle schon da gewesen, und nach wie vor kann man, für wenig Geld und bei oft beklagenswert freier Platzwahl, Weltstars (bzw. künftige solche) im herbst erleben, statt sich, wie in Salzburg die Hochkulturjünger, um 1000-Euro-Karten für Opernaufführungen mit Netrebko und Kaufmann prügeln zu müssen. Nach wie vor ist im steirischen herbst Kunst zu erleben, die aufregt und erregt (und manchmal auch ganz schön fad ist).
Stimmt, vom Relevanzverlust des Festivals ist immer wieder einmal die Rede; seit den 70ern ist das schon so. Als Erfolgsgeschichte lässt sich das Festival trotzdem lesen. Nicht bloß, weil es immer noch da ist. Sondern auch als Erfolgsgeschichte des Skandalösen: Weil öffentliche Ablehnung die Reputation des betroffenen Künstlers und des Rahmens, in dem er agiert, langfristig sogar stärken kann. Bisher zumindest konnte man sich darauf verlassen, dass die Forderung, Ausstellungen zu schließen, Institutionen zuzusperren, Verantwortliche zu entlassen, Diskussionen provozierte. Und so mittelbar dafür sorgte, dass die Autonomie der Kunst politisch und gesellschaftlich respektiert wird.
Und jetzt? Ist sinkendes Skandalaufkommen ein Zeichen für mehr Toleranz oder mehr Ignoranz? Oder was hieße es umgekehrt für das Festival, was hieße es für die Gesellschaft, wenn die von der Kunst Beleidigten wieder mehr werden? Der 50. steirische herbst wird das klären müssen, und die Ausgaben 51 ff. auch. Gut so.
* Florentina Holzinger: „Apollon Musagète“. Premiere am 28. September, Dom im Berg, Graz.
Ute Baumhackl