Sie eröffnen heute den 50. steirischen herbst. Wie vorbestimmt ist das Programm bei so einem Jubiläum?
VERONICA KAUP-HASLER: Vor ein paar Jahren war der Gedanke an den 50. steirischen Herbst nicht angenehm. Das hat sich aber schnell in Lust verwandelt, weil das Festival ein großartiger, reichhaltiger Fundus an visionären Themen ist, die bis heute Sprengkraft besitzen. Wie etwa die Nomadologie der Intendanz Haberl. Oder auch unser Thema Strategien zur Unglücksvermeidung aus dem Jahr 2009. Daraus ist eine Fülle neuer Projekte entstanden.
Unter anderem das Riesenprojekt „Die Kinder der Toten“ im Mürztal mit dem Nature Theater of Oklahoma.
Da bin ich als Dramaturgin ab ovo dabei. Ich habe mit Claus Philipp den Roman für eine sehr freie Adaption zusammengefasst, das Nature Theater of Oklahoma macht das zur Grundlage für einen Stummfilm, der auf Super 8 gedreht wird. Seit gut eineinhalb Jahren bereiten wir in der Region gemeinsam mit Bürgermeistern, Vizebürgermeistern und Multiplikatoren vor Ort den Boden für dieses enorm große Projekt. Für mich ist das wirklich ein besonderer künstlerischer Höhepunkt meiner Intendanz. Das macht man in dieser Größenordnung nur einmal im Leben. Das war auch nur möglich, weil Elfriede Jelinek uns die Rechte am Roman geschenkt und uns sehr unterstützt hat.
Man hört auch, im Mürztal stoßen sich manche an dem Projekt.
Ja, aber es zeigt auch, wie Widerstand durch Auseinandersetzung überwunden wird. Und ich glaube, dass das Elfriede Jelinek zutiefst freut. Der Roman spielt ja in der Region. Untote kommen zurück, es geht um österreichische Geschichte, Fragen von Schuld, die oft nur rhetorisch abgehandelt, aber nicht verinnerlicht sind. Dieses Gedenksyndrom, diese Wiederkehr der Vergangenheit schien uns gerade nach 50 Jahren steirischer herbst enorm passend. Und so wie wir das machen, kann das kein anderes Festival.
Zu den zentralen herbst-Stehsätzen gehört es, dass er früher besser war. Wenn Sie in 20 Jahren auf 2017 zurückblicken ...
...finde ich hoffentlich nicht alles an der Kunst der Gegenwart schlecht wie die Alten auf dem Veteranenbalkon der Muppet-Show. Meistens hängt so was ja damit zusammen, dass man das Verfließen der Zeit und damit eigentlich die eigene Jugend beweint. Wer den Mut zur Auseinandersetzung behält, wird feststellen, wie lebendig und zeitgenössisch der steirische herbst ist. Natürlich hat sich der künstlerische Ausdruck mit der Gesellschaft gewandelt. Das Skandalbedürfnis von seinerzeit hat mit der restriktiven Gesellschaft von damals zu tun.
Sind wir heute wirklich so viel liberaler?
Ja. Gott sei Dank! Auch dank der Kunst hat man heute viel mehr Möglichkeiten in einer Stadt wie Graz zu überleben. Früher fühlten sich die Künstler ja hier fatalistisch verhaftet und ortsgebunden. So etwas erzeugt Hass, aber auch eine produktive Verzweiflung, wie bei Werner Schwab oder Wolfi Bauer mit ihrem unglaublichen Aggressionspotenzial gegen das Heimische oder das, was sie umgibt.
Der Bürgerschreck hat seither endgültig ausgedient?
In einer grundliberalen Gesellschaft hat die Kunst notwendigerweise andere Themen. Das heißt nicht, dass die Kunst unschärfer wird. Sie ist nur auf andere Fragestellungen gerichtet.
Sieht man sich in den Archiven die herbste von seinerzeit an, fällt in den Anfangsjahren ein Kraut- und-Rüben-Programm auf – vom Zirkus bis zur Operette.
Auch von heute wird nicht alles überdauern. Das ist Kunst-immanent. Aber es wird im herbst immer Maßgebliches geben. Das Festival hat sich von einem wilden Gemisch zu etwas anderem entwickelt. Früher hatte da auch der Zirkus Roncalli Platz, aber vieles, was einmal im Rahmen des herbst denkbar war, ist heute in der Populär-Kultur zu Hause. Aber damals war dieses Suchen und Herumexperimentieren eben in Ordnung.
Sie haben in Ihrer Intendanz seit 2006 weitgehend auf klassische Theaterformen verzichtet.
Weil so etwas das Schauspielhaus, das Burgtheater und jedes andere Theater doch ohnehin macht. Der steirische herbst muss den Rahmen sprengen, das ist meine absolute Überzeugung. Wir müssen Dinge tun, die niemand anderes so kann.
Dafür machen Sie aber ziemlich viele Koproduktionen.
Weil das Finanzierungsmodelle sind. Zudem ist so den Arbeiten auch nach dem steirischen herbst ein Weiterleben und Publikum garantiert. Das kommt den Künstlern und der Kunst zugute. Wesentlich ist mir das Entdecken neuer künstlerischer Positionen, die Arbeit mit Künstlern, die neue Plattformen brauchen, das macht den herbst aus. Heuer arbeiten wir etwa das erste Mal mit Marlene Monteiro Freitas, einer unheimlich wilden Choreografin von den Kapverdischen Inseln. Das ist ihre erste große Arbeit, und sie kann sie bei uns mit einer maximalen Anzahl an Publikum teilen. Und es ist unser Prinzip zu sagen: „Wir ermöglichen dir deinen nächsten Schritt in deinem künstlerischen Dasein.“
Was wäre noch ein künftiger Markstein im Rückblick auf 2017?
Der Weltkünstler Walid Raad macht für uns eine Ausstellung im Palais Attems. Er nennt das „artist walk“. Es geht darin um das Verhältnis Europas zur islamischen Kunst. Das ist ein vermeintlich stilleres Projekt mit unglaublicher konzeptioneller Schärfe, ästhetisch und politisch zugleich. Dass es uns gelingt, mit Walid Raad, der zwischen New York und Beirut pendelt, diese Arbeit in Graz zu realisieren, ist ein Glücksfall. Und ich freue mich auf das Reenactment von „trigon 67“ im Künstlerhaus.
Ute Baumhackl