Wer ein passendes Stück zu den Vorkommnissen im griechischen Moria sucht, wird im Grazer Schauspielhaus fündig, wo am Freitagabend ThomasKöcks"dritte republik (eine vermessung)" Premiere feierte. Und gefeiert wurde sie. Mit langem Applaus goutierte das Publikum im halbvollen, also vollen, Haus die erfrischende Ensembleleistung und Inszenierung von Anita Vulesica. Die österreichische Erstaufführung von Köcks Stück fiel im Frühjahr coronabedingt ins Wasser, für die neue Saison entschied Intendantin Iris Laufenberg damit zu eröffnen.

Landvermesserin Katrija Lehmann mit Lukas Walcher als Patient.
Landvermesserin Katrija Lehmann mit Lukas Walcher als Patient. © Lex Karelly

Die erstmals in Graz inszenierende Vulesica lässt die Landvermesserin (Katrija Lehmann) in einer geschlossenen Guckkastenbühne mit der Optik einer ranzigen Wohnung starten, die für eine unbekannte Provinz steht. Von der ehemaligen K.K.-Administration ausgeschickt, soll sie nach dem Weltkrieg die Grenzen festlegen. "Drecksschnee" in der "Drecksprovinz", flucht die Geodätin vor sich hin, während ein Kutscher (Werner Strenger als unbeirrter Sonderling) von erblindeten Menschen erzählt, die aus dem Dickicht des Waldes gelangen. Die Grenze ist freilich ein kafkaesker Sehnsuchtsort: Geschickt lässt Vulesica die Figuren um das Phänomen Grenzen kreisen, ohne ihr tatsächlich näher zu kommen.

Das Zweiergespann erhält Zulauf, als man auf eine blinde Fallschirmspringerin (Evamaria Salcher, optisch als Mischung aus Kampfsoldatin und Tinkerbell) und später einen Patienten (überzeugend schräg Lukas Walcher) trifft. Im Hafen und mit dem Reeder (Frieder Langenberger, herrlich bummelwitzig im imposanten Reifrock) findet die Reise schließlich ihr Ende.

Zeitlos auf Grenzsuche

Was nach Entwicklung klingt, ist letztendlich ein theatraler Essay, in dem sich die Handlung darauf beschränkt ein Vorwand zu sein. Das Stationendrama ist mehr Zustand als Entwicklung, wobei Vulesica der Versuchung widersteht, das Stück in ein schräges Kuriositätenkabinett zu verwandeln. Auch so ist Köcks Text stark genug: Schichtweise gräbt er der Grenze seine Substanz ab, macht sie zum Stellvertreter ("Ein Krieg verschwindet von den Gräben in die Körper") und arbeitet sich am Nationalen ab. Die zunächst aufgebaute Kontextualisierung im Österreich nach dem Ersten Weltkrieg löst sich bald in der Zeitlosigkeit auf,  zeitgenössische Anspielungen bleiben meist dezent oder über die Bande. Stattdessen steht im Vordergrund: Der Krieg als Antithese zur internationalen Solidarität ist jahreszahlunabhängig. Die auf Konstrukten aufgebaute Verteilung der Erde ein Universalthema der Menschheitsgeschichte.

Als tauglich erweist sich das Bühnenbild (Anna Brandstätter): Auf der schwarzen, postapokalyptischen Vulkanlandschaft, eingehüllt in einen Nebel der Unklarheit, riskiert Hauptdarstellerin Lehmann mit großem Körpereinsatz einige blaue Flecken. Das gesamte Ensemble nahm den Sprachrhythmus von Köcks Text feinsinnig auf und überzeugte bei der Premiere mit Spielfreude und schauspielerischer Qualität.

Kleiner Wermutstropfen blieb die physische Abwesenheit des von der Regisseurin zentral intendierten Kinderchors, der die Gegenstimme zu den Figuren einnimmt. Coronabedingt konnte der 16-köpfige Chor nur durch (klug gelöste) Videoprojektionen eingespielt werden.

Anleihen bei Haider und Kafka

Die Anleihen, die Köck in "dritte republik" nimmt, sind freilich prominent und allgegenwärtig. Kafkas Landvermesser Herr K. ist Teil der Grundkonstellation und der Wirrnis, die der österreichische Dramaturg mit feinem sprachlichem Zwirn aneinanderfügt. Der zweite offensichtliche Querverweis des Stückes ist historisch besetzt, oder sagen wir besser belastet: Die dritte Republik, unter diesem Schlagwort propagierte Jörg Haider in den 90ern seine Vorstellung eines Staates mit starker Führerfigur und weitgehender Ausschaltung des Parlaments. Die Verfassungsreform, die neben vielem auch das Ende der Trennung von Kultur und Staat bedeutet hätte, konnte Haider nicht umsetzen.