Das Genre der Murder-Mystery erlebte in den letzten Jahren einen ordentlichen Aufschwung. Während ein Kenneth Branagh sich an Adaptionen klassischer Agatha-Christie-Geschichten versuchte (und kläglich scheiterte), ging Rian Johnson noch einen Schritt weiter und verpasste dem in Fachkreisen Whodunnit genannten Rätselraten einen modernen Neuanstrich. Mit Erfolg: In „Knives Out“ bediente sich der ebenfalls für Sci-Fi-Filme wie „Looper“ und dem gleichermaßen kritisierten wie geliebten „Star Wars“-Ableger „Die letzten Jedi“ bekannte Regisseur an den etablierten Genre-Regeln und vermischte diese zu einem spannend-amüsanten Krimi-Cocktail. Der von Ex-007 Daniel Craig mit dick aufgetragenem Südstaatenakzent dargestellte Ermittler Benoît Blanc wird nun auf einen weiteren Fall entsandt. In bester Hercule-Poirot-Manier ist Blanc selbst der einzige zurückkehrende Charakter, das erneut schräge Kabinett an Figuren ist ein gänzlich neues und die Geschehnisse des Vorgängerfilms bleiben gar unerwähnt.
Nach dem herbstlichen Setting von „Knives Out“ entführt „Glass Onion“, benannt nach dem gleichnamigen Beatles-Song, das Publikum in sommerliches Terrain. Tech-Milliardär Miles Bron (Edward Norton) lädt seine engsten, ebenso steinreichen Freunde (u.a: Kathryn Hahn, Leslie Odom Jr., Kate Hudson) auf seine Privatinsel ein, um ihnen ein ganz besonderes Vergnügen zu bereiten. In seinem gigantischen Anwesen, dessen Antlitz eine schwer überschaubare, gläserne Zwiebel ziert, sollen sie seinen eigens inszenierten Mord aufklären. Als Überraschungsgast taucht plötzlich jedoch auch Top-Detektiv Benoît Blanc in der Villa auf. Das eigentlich als Spiel geplante Vorhaben nimmt einige unerwartete Wendungen.
Im Gegensatz zum Vorgänger ist der allgemeine Ton diesmal weniger ernst und noch eine ganze Spur überzogener. Und das ist gut so: In Anbetracht der nahezu unglaubwürdigen Verhaltensweisen realer Vorbilder, die man sich hier zur Zielscheibe genommen hat, ist der cartoonhafte, satirische Ansatz überaus passend und treffsicher. Darüber hinaus wirken gewisse Figurenzeichnungen nahezu prophetisch. Während der egozentrische Gastgeber an Tech-Megalomanen á la Musk und Zuckerberg angelehnt wirkt, erinnert das von Ex-Wrestler Dave Bautista amüsant verkörperte Abziehbild eines toxisch-männlichen Internetkults an den unlängst festgenommenen YouTuber Andrew Tate. Doch auch abseits der amüsanten Reichenkarikaturen trifft die Krimikomödie den Zahn der Zeit. Von vorne bis hinten mit spezifischen Referenzen über Promiverehrungen, Cancel Culture, die Corona-Pandemie und diversen Internettrends gespickt, nimmt der Film den gegenwärtigen Zeitgeist gekonnt überspitzt aufs Korn.
Das eigentliche Mysterium bleibt jedoch weitgehend Nebensache und ebendies ist letztlich der große Zaubertrick von „Glass Onion“. Zuschauer werden von all dem Glitzer und Glamour rundherum derart kontrolliert an der Nase herumgeführt, dass das Offensichtliche lange Zeit übersehen wird. Dass unter dieser dichtbeschichteten Zwiebel letztlich eine relativ simpel-gestrickte Auflösung steckt, das ist der Geniestreich.
Bewertung: ★ ★ ★ ★ ★ (5/5)
"Glass Onion" ist auf Netflix zu sehen.
Christian Pogatetz