Irgendwo im Mittelmeer, nicht weit entfernt von der Küste von Lesbos, droht ein überfülltes Schlauchboot zu kentern. Da bleibt nur ein Ausweg: Ab ins kalte Wasser, nötigen Ballast abwerfen und das Boot so lange mit eigener Kraft schieben, bis Land in Sicht ist. Es sind dramatische Szenen, die sich abspielen, als die syrischen Schwestern Yusra und Sara Mardini 2015 ihrer von Krieg zerrütteten Heimat den Rücken kehren und eine Odyssee ins vermeintliche Paradies Europa wagen. In Deutschland wollen die beiden ehrgeizigen Geschwister ein neues, sicheres Leben starten, fern von Terror, Tod und Leid. Das eigentliche Ziel liegt jedoch noch in weiter Ferne. Für die schwimmbegabte Yusra heißt die Endstation nämlich Olympia. So utopisch diese Vorstellung auch klingen mag, für die heute 24-jährige Sportlerin wurde dieser Traum 2016 zur Wirklichkeit.
Eine hollywoodreife Geschichte: Nicht umsonst hat Regisseurin Sally El Hosaini den Stoff unlängst zum abendfüllenden Spielfilm weiterverarbeitet. Das Drama "Die Schwimmerinnen" zeichnet die ungewisse Reise der Mardini-Schwestern, die letztendlich bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro mündete, packend und emotional aufwühlend nach. Die imposant bebilderte Verfilmung der realen Ereignisse ist von großer Menschlichkeit und Empathie durchzogen. Hier und da driftet das Gezeigte minimal in pathetische Gefilde ab, auf heuchlerischen Betroffenheitskitsch wurde aber gänzlich verzichtet. Man scheut sich nicht davor, auch Schicksale Flüchtender zu porträtieren, die einen weniger märchenhaften Ausgang nahmen als das von Yusra Mardini.
Viel von seiner rohen Kraft bezieht der Film aber zweifellos aus dem außergewöhnlichen Spiel der Hauptdarstellerinnen – die tatsächlichen Schwestern Nathalie und Manal Issa wissen mit Ausdrucksstärke zu beeindrucken und treiben den emotionalen Kern voran. Im finalen Drittel darf im Endspurt sogar der deutsche Exportstar Matthias Schweighöfer als Schwimmtrainer noch einen denkwürdigen Auftritt hinlegen. Ein Fluchtdrama, das aufgrund seines immersiven, universellen Erzählansatzes noch lange nachhallen wird. Ergreifend, inspirierend und (leider) weiterhin brandaktuell.
Bewertung: ★ ★ ★ ★ ☆ (4/5)
"Die Schwimmerinnen" ist auf Netflix zu sehen.
Christian Pogatetz