Irgendwann wird der Captain des Auswandererdampfers Kerberos mehr zu sich selbst als zu den anderen sagen: "Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht." Das klingt ein bisschen wie ein Weckruf an die, die vor dem Bildschirm sitzen und schlagartig ist man um Folge vier von acht froh, dass man jetzt keine Prüfung über "1899" ablegen muss. Wobei hier irgendwo im Nirgendwo am Atlantik auf dem Weg nach New York wäre die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches zwar stimmig, ist aber fatal. Oder um es mit anderen Worten zu sagen – es ist kompliziert. Wenn wir also schon einmal beim Hirn sind, steigen wir auch gleich mit Maura Franklin (Emily Beecham) ein. Die Britin ist Ärztin, kennt das Hirn wie ihre Westentasche, in der Theorie zumindest. Der Frau, dem schlichten Wesen, blieb der Arztberuf verwehrt. Sie ist nur eine von rund 1400 Passagieren auf der Kerberos, die in sieben Tagen von London nach New York fährt. Ihre Mitreisenden wird eines verbinden, sie alle sind am Sprung, haben etwas zu verbergen, wollen flüchten: Die stille Geisha mit ihrer Mutter, das spröde Hochzeitspaar, die beiden ungleichen Brüder. Und dann wären da noch die Passagiere der dritten Klasse, weggesperrt von der feinen Gesellschaft.
Maura Franklin hingegen, sie will etwas finden: Vor vier Monaten ist das Schwesternschiff der Kerberos, die Prometheus, auf der gleichen Route spurlos verschwunden. Sie vermutet ihren Bruder darauf, der ihr einen Brief hinterlassen hat. Die zentrale Botschaft darauf: "Was verloren ist, wird gefunden werden." Und sie ist nicht die einzige Person, die diese Botschaft erhält. Wie der Kapitän, Eyk Larsen (Andreas Pietschmann), leidet auch sie beständig an Flashbacks. Die beiden werden fortan versuchen, hier Licht ins Dunkel zu bringen. Leicht ist das nicht, denn Jantje Friese (Drehbuch) und Baran bo Odar (Regie) haben hier ein dunkles, düsteres Labyrinth auf hoher See gezimmert, dem man nicht entkommen kann. Als auch noch die Prometheus Funksprüche absendet und völlig leer am Meer treibend gefunden wird, beginnt sich das Mystery-Karussell langsam zu drehen.
Mit "Dark" haben Friese und bo Odar den ersten großen deutschen Netflix-Hit gelandet, "1899" gibt sich verkopfter, komplexer, abgehobener. Mystery für Fortgeschrittene, wenn man so will. Die hohe Kunst, die dem Duo gelingt, ist, dass man trotz vieler Fragezeichen, die sich am Wegesrand so auftun, nicht vorzeitig die Notbremse zieht. Bei dieser Schnitzeljagd hat jeder unheilvolle Blick, jeder Song eine Botschaft. Kein Wunder also, dass hier auch "White Rabbit" von Jefferson Airplane mit dabei ist: "Go ask Alice, I think she’ll know."
Die Serie konzentriert sich ganz auf das Katz-und-Maus-Spiel, das sich die Serienmacher mit den Zuschauern liefern. Die Motivlagen der handelnden Personen werden nur gestreift, neue Player tauchen auf, aber bleiben lange im Dunkeln. Das Setting und die Stimmungsbilder, die sind beeindruckend bedrückend. Elegante Fin-de-Siècle-Innenausstattung, düstere Gänge, die raue See, die um die Schiffe tost. Schiffe, die einen in den sicheren Hafen bringen oder den Tod? Was weiß man schon. Und woher kommen die kleinen, grünen, schillernden Käfer? Nichts Genaues weiß man nicht. Die Nebel, sie beginnen sich erst langsam zu lichten.
Wer jedoch auf philosophischen Erkenntnisgewinn hofft, der dürfte hier enttäuscht sein. Im Gegenteil, bisweilen rutscht man bei den Dialogen in bedeutungsschwangeres Geplänkel ab. Wer jedoch schon immer mal in ein düsteres Labyrinth auf hoher See springen wollte – bitte, wir halten Sie keineswegs davon ab. Ach ja, den Knoblauch können Sie daheim lassen, Vampire und Werwölfe kommen nicht vor.
Bewertung: ★ ★ ★ ★ ☆ (4/5)
"1899" ist auf Netflix zu sehen.