Es ist wohl einzigartig in der Popgeschichte, dass man Grammy-Nominierungen in allen relevanten Kategorien in einem x-beliebigen Hinterhof feiert: mit Spritzkerzen zwischen Waschmaschine, Sitzgarnitur und Garage. Es ist die Welt von Billie Eilish, einem der größten Popstars unserer Zeit. Diese Szene in der Doku "Billie Eilish: The World’s a Little Blurry” ist symptomatisch für die Hauptdarstellerin und den sie umgebenden Kosmos: Mutter, Vater und Bruder. Wer jetzt davon ausgeht, dass diese 19-jährige Billie Eilish als beschützenswertes Küken gilt, der ist falsch abgebogen. Denn dieses Doku beschwört eine der wichtigsten Währungen, die es absurderweise in dieser von Social-Media-dominierten Welt gibt: Authentizität.
In zwei Stunden und 20 Minuten zeichnet Regisseur R.J. Cutler vor allem den Entstehungsprozess des letztlich mit fünf Grammys ausgezeichneten Albums "When We All Fall Asleep, Where Do We Go?" nach. Dokus wie diese kennen wir zuletzt von Taylor Swift und Lady Gaga (Netflix), die vor allem einem dienen: der Imagepflege. Das ist bei dieser Doku nicht anders, aber mit Einschränkungen: Wir sehen einen Star am Sprung, der mit seinem Bruder in dessen Schlafzimmer jene Lieder schreibt, die wenig später zu Welthits werden. Wo Plattenbosse sich ebendort auf die Couch zwängen müssen, um dem musikalischen Rohdiamanten zu lauschen. Und man sieht durchgehend eines: Billie Eilish, die lässt sich nichts dreinreden. Etwa wenn die Mutter über ihren Bruder versucht auf sie einzuwirken, um doch Lieder zu schreiben, die eingängiger sind. Billie hält dagegen, aber das als Trotz abzutun, wäre falsch: Sie weiß genau, was sie will.
Die Doku ist auch ein Abbild davon, wie das Prinzip "Starwerdung" auf das Umfeld wirkt: Wenn selbst die Stars Schlange stehen, um dich zu umarmen. Wie man herumgereicht wird, wie ein Äffchen, damit die Plattenbosse und ihre Entourage Selfies machen können. Vielleicht sind das die stärksten Szenen der Doku, weil man der 19-Jährigen besonders nahe kommt: Als Billie verweigert, muss sie sich fügen. Das Lächeln: eisig. Die Stimmung mit der Mutter: frostig. Oder Coachella: Als sie zum ersten Mal ihrem absoluten Idol aus Kindheitstagen gegenüber steht: Justin Bieber. Eilish wird zum scheuen Teenager, der sich fünf Minuten weinend an den ehemaligen Kinderstar klammert. Mehr Authentizität geht wohl nicht.
Das zu all dem Hype Gegenbilder nötig sind, ist klar: Videos aus Kindertagen, zerplatzte Träume und ein Freund, der sie am Gängelband hält. In der Kommunikation mit ihren Fans wird klar, warum sie die Stimme einer Generation ist: Billie Eilish ist eine Emomaschine, die sich an ihren Fans auflädt wie ein Akku. Die ihren Fans aus der Seele spricht, weil sie mit ihnen die gleiche Zeit, die gleichen Gefühle teilt. „I’m lonely“, sagt sie in einer Runde mit Journalisten, die schon längst die 40-er hinter sich gelassen haben: "There are things you can feel, but not describe". Lost in Translation: Zwei Generationen, zwei völlig verschiedene Welten. Auch so eine Erkenntnis.
Fazit: Eilish-Fans werden die Doku lieben und die Sängerin danach umso mehr. Allen anderen bietet sich ein guter Einblick in die Faschiermaschine Superstar – wenn sie dich mal hat, dann bist du möglicherweise verloren. Reden wir in zwei Jahren nochmal darüber. Ach ja, eineinhalb Stunden hätten die Botschaft auch transportiert.