Es geht immer um den Akt. In jeglicher Hinsicht. Rock ist ein Akt der Auflehnung, der Hoffnung, der Entgrenzung – der Liebe. Und ja, auch ein Akt als solcher.

Wer die Band Rammstein und ihre Musik nach den jüngsten Vorwürfen als bizarr-sexuelle Ausnahmeerscheinung im Rockkosmos begreift, übersieht, wofür diese Musik seit jeher – auch – steht. Die Rockgeschichte ist ein einziger Koitus. Es wimmelt nur so von fleischlich-lüsternen Chiffren, Anspielungen, Texten. Von den kreisenden Hüften Elvis Presleys bis zu den Brunftschreien Robert Plants.

Die amerikanische Blues-Rockband Hot Tuna, inklusive "Flying V"-Bassgitarre
Die amerikanische Blues-Rockband Hot Tuna, inklusive "Flying V"-Bassgitarre © (c) imago images/MediaPunch (Rock Negatives / MediaPunch via www.imago-images.de)

Die Gitarre, der Phallus

Der Rock 'n' Roll ist eine Mimesis des Männlichen, sein Hauptinstrument, die Stromgitarre, ist ein Phallussymbol. Besonders deutlich ist das, wenn sie wie von Led Zeppelins Jimmy Page als Doppelhalsgitarre in die Luft gereckt wird. Der Bau mancher E-Gitarren lässt an sich schon Assoziationen aufkommen. Das Instrument ist ein Symbol maskuliner Macht. Die Gitarrenfirma Gibson spielte mit der machoiden Überzeichnung. Ihre Fabrikate sind massige Waffen, die schwer wiegen. Die Modelle, ob "Flying-V" oder die Z-förmige "Explorer", sind übertriebene Streitäxte. Wenn sich die feministische Folksängerin Phoebe Bridgers heute eine spitze Metalgitarre umhängt, macht sie das nicht unbedingt deshalb, weil sie sie soundtechnisch benötigen würde. Sondern weil sie die überzeichnete Männlichkeit ad absurdum führt. Das kommt einer symbolischen Kastration gleich. Wie sie von der feministischen Riot-Grrrl-Bewegung bereits in den 90ern – nach 30 Jahren machoider Wollust – vollzogen wurde: Sie eigneten sich die Gitarren und deren Macht an.

Der Rock 'n' Roll war kein Soundtrack, sondern ein Instrument der Revolution. Er trieb die Veränderung einer Epoche voran. Für den bulgarischen Politologen Evegenij Dajnov ist der Beat der 60er revolutionärer als 1848. In seinem Werk "Politik und Rock 'n' Roll" skizziert er die historische Kraft der Musik. Das ist die eine Seite. Über die andere Seite, die dunkle Seite der musikalischen Revolution, wird tatsächlich weniger gesprochen. Zu idealisiert ist der Mythos "Rock". Dabei wimmelt es nur so von giftiger Männlichkeit und problematischen Machtverhältnissen. Ein anderes Rockidol, Kurt Cobain, stellte das bereits vor mehr als 30 Jahren fest.

Freie Liebe für Männer

"Under my Thumb" von den Rolling Stones ist eine unverblümte Hymne auf den männlichen Kontrollwahn. Im Beatles-Song "Run for your Life" singt John Lennon: "Ich würde dich lieber tot sehen, kleines Mädchen, als mit einem anderen Mann." Imagine, Lennon. Der friedensweiße Aktivist. Der, der Frauen ehrerbietend als "Niggas of the World" besang – er schlug in seinen frühen Jahren auch im echten Leben zu.

Auch die 68er-Bewegung an sich hatte eine manipulative Ebene. Freie Liebe? Für Heteros, ja. Und für Männer. Die propagierte grenzenlose Liebe – sie garantierte auch die Verfügbarkeit. "Letztendlich sollte freie Sexualität bedeuten, dass die Frauen den Männern immer zur Verfügung standen. Ich weiß nicht, ob man als Frau freier wurde. Es wurde die ganze Verantwortung auf die Frau übertragen", sagt die einstige Studentenaktivistin Gretchen Dutschke-Klotz heute.

"Baby Groupies" und Rock Outlaws

Es ist natürlich auch der Rockstar, der sich einen Harem an Frauen im Zeichen der freien Liebe leisten kann und darf. So weit, so gut. Es ist aber leider auch die Industrie des Rockzirkus, der ein System aus Sexismus, Macht, Ausbeutung und – im schlimmsten Fall – Missbrauch als künstlerisches Credo entschuldigt. Seit jeher. Die Liste der mutmaßlichen Täter ist lang und umfasst Stars und Bands wie Jimmy Page, Red Hot Chili Peppers, Marilyn Manson. Noch länger ist die Liste derer, die mit 13- bis 14-jährigen Mädchen verkehrten. Die Musikgeschichte hat für dieses Phänomen sogar den Begriff "Baby Groupies" geboren. Eine Blogautorin bringt es salopp auf den Punkt: "Dein Lieblingsrockstar ist höchstwahrscheinlich ein Widerling." Die Ablehnung des Bürgerlichen, die Auflehnung gegen soziale Normen, die Katharsis im Namen der Kunst, die männliche Ungezähmtheit – sie wird bis heute als Legitimation für und von "Rock-Outlaws" eingesetzt. Wer abseits des Establishments agiert, darf sich demnach mehr leisten, so der unausgesprochene Deal. Ja, der Rock ist oft frauenfeindlich, die verehrten Rebellen sind nicht selten verkappte Sexisten.

Man muss deshalb nicht jede Band "canceln". Schon ein Bewusstsein für die Problematik würde helfen. Bis dato fehlt die Akzeptanz für das Thema, wie der jüngste "Fall Lindemann" offenbart. Die Tour der Band wird fortgesetzt, die Konzerte entwickeln sich zu kruden Trotzveranstaltungen. Fans und Kritiker schreien aneinander vorbei. Und der Sänger selbst macht sich über die Debatte lustig und dichtet, wie in Berlin auf Videos festgehalten wurde, derweil seine Ballade "Ohne Dich" um. Da heißt es nun anstatt: "Und die Vögel singen nicht mehr", "Und die Sänger vögeln nicht mehr". Da sind sie wieder. Die Ablehnung, die Auflehnung, der Trotz.