Ob als KZ-Wärter, Kolonialisten in Afrika, Kannibalen im Schlachtkittel oder als Protagonisten eines Hardcore-Pornos. Wenn Rammstein ein neues Album ankündigen, sind Aufregung und Skandal-Scharade vorprogrammiert. Für martialische Ästhetik ist man Feuer und Flamme, das R rrrrrrollt rrrriefenstählig, die Vermarktungstaktik auch.

Wie keine andere Band, wissen die deutschen Brachialrocker zu schockieren, verwirren und zu verstören. Medien wissen die Ostdeutschen gekonnt für sich zu instrumentalisieren. Fast immer leisten Feuilleton und Boulevard brav Werbe-Schützenhilfe. Und seit jeher wird auch dieselbe Frage von uns Zeitungen wiedergekäut: "Ja, dürfen die das denn?" Der nächste Schritt: Journalist:innen erklären, ob Rammstein etwas dürfen oder dass doch nicht alles von der Kunstfreiheit gedeckt ist. Dann geben Rammstein Stadionkonzerte, die in Sekunden ausverkauft waren, touren mit ihren teutonischen Pyro-Opern rund um den Globus. Und alle Welt staunt. 

Das gut gehütete Geheimnis

Wie gewohnt, gibt die Band auch im Vorfeld ihres heute erscheinenden Albums keinerlei Interviews. Braucht sie aber auch nicht. Auch, weil die Lieder der Band bereits alles sagen. Und natürlich auch deshalb, weil Rammstein weiß, dass ein Geheimnis nur dann Faszination vermittelt, wenn es unausgesprochen bleibt, ein Tabu nur dann schockiert, wenn es ein No-Go bleibt. 

Das große Mysterium von Rammstein ist aber im Grunde gar kein Geheimnis. Das Liedgut der sechsköpfigen Rockband wirkt entrückt und anrüchig, entführt jedoch mitten in die Gesellschaft und hält dieser verschwiegenen, prüden Engelsgemeinschaft, die Teufelsfratze im Spiegel vor. Dort, wo sexuelle Macht-Begehren geweckt werden ("Ich tu dir weh"), unauffällige Menschen dem Sextourismus frönen ("Pussy"), kleine Monster zu großen Mördern werden, Außenseiter verzweifeln, die Sehnsucht nach einem Führer geweckt wird und im Allgemeinen fast ausschließlich gesündigt wird. Wer Rammstein hört, wird in den ekeligen Schlund der Menschheit katapultiert. 

Aber, das wird gerne vergessen, wenn über Rammstein geschrieben wird: Es wird im Gegenzug geliebt, was das Zeug hält. Wahrhaftig und pur. Diese Band hat der deutschen Musik auch eine der schönsten Liebeslieder der Geschichte geschenkt. 

Neues Album ohne Feuer

Und jetzt? Der totaaaale Ausfall. Das achte Studioalbum von Rammstein ist eine Persiflage auf die eigene Band-DNA. Gewiss, die unterschätzte Stärke der Band war seit jeher, dass es keine Veränderung gab. Doch diesmal sucht man die doppelten Böden über 40 Minuten und elf Songs fast durchgehend vergeblich. Liebesballaden auch. Stattdessen gibt es stumpfes Testosteron ohne Oxytocin. "Zeit" ist ein Album für halbstarke Muskelprotze, die kichern und rot anlaufen, wenn sie die Worte "Kondome und Titten" hören. 

Das Motto lautet, wie bereits auf der zweiten Single-Auskoppelung "Zick Zack", "härter, straffer, glatter", wie es scheint. In diesem Lied setzt die Band um Frontmann Till Lindemann das Skalpell am Schönheitswahn und Plastik-Promi-Planeten an, riskiert mit einer unterhaltsamen Schein-Kampagne einer Schönheitsklinik im Internet eine dicke Glööckler-Lippe. So gut die visuelle Konzeptionskunst auch war, so fahl war der Geschmack des übrigen Songs. Auf alte deutsche Redewendungen anspielen, abgeschnittene Wortsalven voller Inbrunst abfeuern, Haus-Maus-Reime: Am ewig-lodernden Rammstein-Feuer ist irgendwie nichts mehr schön.

Kondome und Titten

Der musikalische Gleichschritt hinkt. Passend also die Textzeile im Opening-Track "Armee der Tristen": "Komm mit, im Gleichschritt". Rechte Militär-Glorifizierung im Zeitalter des Krieges? – Nein, bereits 2001 haben Rammstein ihre politische Haltung (un)eindeutig klargestellt: "Links 2 3 4". Ja, links 2 3 4, wir waren schon hier. Nicht nur hier. 

Auf "Angst" singt Lindemann "Alle haben Angst vorm schwarzen Mann". Was damit wohl gemeint ist? Der Wahn, der Albtraum, er ist wieder da. Auf "Meine Tränen" droht ein geschlagenes Kind im Hotel Mama zur Bestie heranzureifen. Oh Wunder. "Dicke Titten" nimmt den sexuellen Stumpfsinn in den Fokus. Wieder einmal. "OK" steht hingegen für den Slogan "Ohne Kondom". Die tiefere Bedeutung hinter der Aussage bleibt im Verborgenen. Spartanisch-steife, tiefgestimmte Gitarren, fiepender, billig-mäandernder Synth-Zirkus. Einst haben Rammstein ihre Musik als "Tanz-Metal" bezeichnet. Der Kreis schließt sich. 

Ein angedeuteter Abschied 

Auf einem Album voller Enttäuschungen wirkt nur das Ende wie ein Hoffnungsschimmer. So markiert der vorletzte Song "Lügen" das bittersüße, hochemotionale Highlight auf einem ansonsten gefühlskalten Album.

"Barfuß am Strand lang gehen, in den Sternenhimmel sehen, sich in grüne Wiesen legen, spazieren gehen im Regen. Klassische Musik anhören, für immer dir gehören. Viele Kinder kriegen und dich für immer lieben", stöhnt Lindemann. Und dann: "Lügen alles Lügen. Niemand traut mir, nicht mal ich". Eine überraschende Stichflamme im sonst erloschenen Rammstein-Feuer: Lindemann läuft textlich zur Hochform auf, erschafft eine nahbare, hoch-neurotische Szenerie. Vereint Fluch und Segen, Hoffnung und Ernüchterung. Das Gute und Grausige im Menschen.

Vielleicht, aber nur vielleicht, ist "Zeit" auch der Abschied der wohl größten deutschen Rockband aller Zeiten. Bereits im Zuge der letzten Veröffentlichung deuteten Aussagen der Band darauf hin. Mit dem letzten Song am Album "Adieu" hätte Rammstein den idealen Schlussakkord vorgelegt. Dass die Band bereits einen ähnlich lautenden Song namens "Adios" vor gut 20 Jahren veröffentlichte, tut da nichts zur Sache.

Aber Rammstein bleibt natürlich stets eine Vermutung. Die beste, die die Unterhaltungsmusik zu bieten hat. 

© KK

Album-Tipp: Rammstein. Zeit. Universal Music.

Live: 25. und 26. Mai 2022, Wörthersee Stadion Klagenfurt. Karten u. a. unter www.oeticket.com