Es beginnt mit einem gesprochenen Gedicht - was schon mal ein guter, feierlicher Anfang ist für einen Konzertfilm über einen Songpoeten. "Once there was a song...", deklamiert Nick Cave mit seinem klangvollen Bariton, danach geht es um Elvis Presley, Las Vegas, die Flügel einer Taube und dunkle Liebesbotschaften.
Der vor knapp 63 Jahren in Australien geborene, seit langem in England lebende Sänger durchschreitet die leeren Räume des Londoner Alexandra Palace und setzt sich ans Klavier, um als Solist ganz ohne Publikum seine Lieder für Coronazeiten zu singen. Der Auftritt aus dem Juni wird am Donnerstag (23. Juli) als "globales Streaming-Event" präsentiert. "Idiot Prayer - Nick Cave Alone at Alexandra Palace" dürfte all jene bestärken, die den Singer-Songwriter für eine der faszinierendsten Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit halten.
Das anfangs rezitierte Gedicht "Idiot Prayer" stammt von der puristischen Pianoballaden-Platte "The Boatman's Call" (1997), Cave singt den rätselhaften Text dann mit mächtiger Stimme gleich noch zum Auftakt seines gut 80-minütigen Konzertprogramms. Die Lieder sind der gedrückten, wie so oft bei diesem Künstler auch düsteren Stimmung angemessen - traurige Musik für eine katastrophale Pandemie eben.
"Sad Waters" etwa - erstmals tauchte das Stück 1986 auf "Your Funeral ... My Trial" auf, einem frühen Werk von Nick Cave & The Bad Seeds. Diese kongeniale, bis heute existierende Rockgruppe hat der Sänger, den Kontaktbeschränkungen und Corona-Abstandsregeln entsprechend, für seinen neuen Konzertfilm außen vor gelassen. Auch Grinderman, Caves ruppige Zweitband, taucht im Alexandra Palace nur mittels Songauswahl auf ("Palaces Of Montezuma", "Man In The Moon").
Besonders berührend gelingen im Londoner Solokonzert "Girl In Amber" und "Waiting For You" - zwei Lieder aus aktuelleren Alben, die der Musiker seinem bei einem Unfall getöteten Sohn Arthur widmete. Diese mit enormer Konzentration gesungenen und gespielten Stücke enthalten - wie auch die monumentalen Epen "The Mercy Seat" und "Galleon Ship" - typische Facetten des Songdichters Cave: Trauer, Angst, Melancholie, Pessimismus, aber auch Romantik und christliches Hoffen auf Erlösung durchziehen sein Gesamtwerk aus fast vier Dekaden.
Der Film "Idiot Prayer" geht auf Caves Soloauftritte aus dem vorigen Jahr zurück. "Ich mochte es, bei diesen Shows dekonstruierte Versionen meiner Lieder zu spielen (...)", sagt er. "Ich spürte, dass ich die Songs wiederentdeckte, und begann darüber nachzudenken, im Studio diese neu erschlossenen Versionen bei Gelegenheit noch mal aufzunehmen. Doch dann ging die Welt bekanntlich in den Lockdown. Die Welttournee mit den Bad Seeds wurde verschoben, Studios und Veranstaltungsorte machten zu. Und die Welt fiel in eine unheimliche, selbstreflexive Stille."
Zu dieser Stille passen die in einer nur sehr sparsam ausgeleuchteten Konzerthalle aufgenommenen, andächtigen Cave-Songs aus mehreren Karriere-Jahrzehnten perfekt. Der 62-Jährige mit der pechschwarzen Prinz-Eisenherz-Frisur wirft sich hinein in seine intensiven Klaviermelodien, einmal lacht er kurz über einen Anflug von überzogenem Pathos. Am Ende verlässt Nick Cave den Saal durch eine offene Tür - dem gleißenden Licht entgegen. Mit Stimmungen und Symbolbildern wusste er schon immer zu spielen.
"Idiot Prayer" ist der dritte Cave-Film in einer Trilogie, nach "20.000 Days On Earth" (2014) und "One More Time With Feeling" (2016). Die Heldenverehrung für den Sänger und Romanautor ("Der Tod des Bunny Munro") befindet sich gerade auf einem Höhepunkt. Seine Live-Auftritte mit den Bad Seeds waren zuletzt hoch emotionale, auch tränenreiche Begegnungen eines Künstlers mit seinem Publikum. Und in Kopenhagen wurde kürzlich, coronabedingt verspätet, die Ausstellung "Stranger Than Kindness" mit rund 300 Objekten aus Nick Caves kreativer Welt eröffnet - eine besondere Ehre für einen Rockmusiker.
Werner Herpell/dpa