„It's a Video-Life“...Ihr großer Hit von 1981 ist jetzt notgedrungen Realität. Die Menschen verkehren fast nur noch per Videoschaltungen oder telefonisch miteinander. Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf Sie?
REINHOLD BILGERI: Aus finanzieller Sicht geht’s mir nicht gut, weil es auch für mich als Künstler einen Totalausfall bedeutet. Aber was meine mentale Befindlichkeit anbelangt, geht’s mir fast sehr gut. Ich bin zurückgeworfen in einen Raum, in dem ich ohnehin oft bin, meine Hausbibliothek. Das ist ein kreativer Raum, vor allem wenn es um Sprache geht. Dann bin ich in einem autistischen Modus. Das vertieft sich jetzt noch mehr, weil ich ganz genau weiß, dass ich eh nicht raus kann,um herumzurocken. Ich hol mir also die Inspiration aus meinem Seelenlabyrinth – und meinen Büchern.
Hinzu kommt ein ganz seltsames, fast euphorisches Gefühl, dass der Planet aufatmet. Das ist natürlich eine ganz ambivalente Situation. Einerseits sind wir mitten in einer höchst unangenehmen Situation, andererseits verspüre ich eine Art Wendezeit. Ich seh das gar nicht durch eine rosarote Brille. Im Jahr 2008, nach dem großen Finanzcrash, haben auch viele gedacht, es kommt zu einer moralischen Umkehr – passiert ist das Gegenteil. Resümee damals: Die Menschen ändern sich nicht, die Gier wird immer größer. Jetzt aber sind wir in einer vollkommen anderen Situation. Jetzt bekommen wir vor Augen gehalten: Achtung, Mensch, du bist sterblich. Das wissen wir natürlich, aber jetzt spüren wir, dass es auch morgen sein kann.
Das Virus ist wie ein Weckruf. Und jetzt, in dieser Krise, ist es offenbar nicht so, dass die bösen Instinkte in uns geweckt werden, im Gegenteil, plötzlich bricht Empathie aus, Nachbarschaftshilfe, Solidarität, Loyalität. All die Dinge also, die wir schon verschollen geglaubt haben. Jetzt spüre ich irgendwie: Die Spezies Mensch hat doch auch Eigenschaften und Anlagen, die nicht ganz so suizidal sind, wie ich immer befürchtet habe. Und noch etwas Positives sehe ich inmitten dieser Katastrophe.
Was denn?
BILGERI: Dass in Zeiten wie diesen, wo es um Leben oder Tod geht, aber kein Feind, kein Sündenbock für „das Böse“ gefunden werden kann, die Populisten dieser Welt plötzlich nichts mehr zu sagen haben. Ist das nicht herrlich? All diese unkultivierten Lümmel, denen es nur um die Macht und ihre eigenen Pfründe geht, versagen auf allen Ebenen.
Von Corona zu Reinhold Bilgeri: Woran arbeiten Sie gerade in Ihrem autistischen Kämmerchen?
BILGERI: Ich arbeite an einem Roman und bin gerade in der Recherchephase, in der ich durch viele Bücher pflüge, die die Kriegs- und Nachkriegszeit beschreiben. Das Thema: Ich bin auf der Spur der sogenannten „Rat Lines“, wie die Amerikaner das nannten. Es geht um die Fluchtwege von Nazis vor allem nach Südamerika und den Vatikan als Drehscheibe. Ich wurde von meiner Mutter, die Religionslehrerin war, höchst militant katholisch erzogen und später ins Internat gesteckt. Sie können sich also vorstellen, welche enge Beziehung ich zum Katholizismus und zu seinen Ausformungen habe.
Dieses Thema begleitet mich schon mein Leben lang. Zuerst war ich im guten Glauben, dass die Katholische Kirche für Barmherzigkeit, Liebe und Reinheit steht. Und dann, im Alter von 16, 17 Jahren kommt man drauf, dass der Vatikan, also die oberste Instanz dieser Kirche, Massenmörder geschützt und zur Flucht verholfen hat. Das ist eine Crux in meinem Leben, die nicht weggeht, deshalb muss ich jetzt darüber schreiben. Ich war mit dem Michael Köhlmeier im Jahr 1973 in Auschwitz, wir sind durch Birkenau gelaufen, das war ein so ungeheuerliches Erlebnis.
Theoretisch haben wir ja gewusst, was das damals für ein Zivilisationsbruch war. Aber wenn man dann an so einem Ort physisch anwesend ist, dann versteht man erst, zu welcher Gattung wir gehören. Denn die Option Auschwitz steckt in uns allen. Deshalb muss man so sensibel sein, wenn es Anzeichen gibt, dass so etwas wieder passieren kann. Und diese Sensibilität beginnt bei der Sprache. Der Arbeitstitel des Buches ist: „Das Gewissen der Tauben“. Die Taube als Symbol des Friedens, des Heiligen Geistes.
Bringen wir es hinter uns: Sie feiern morgen, also am 26. März, Ihren 70. Geburtstag.
BILGERI: Also, dieser Geburtstag ist mir völlig wurscht, weil ich bin jetzt schon in der Zugabenphase eigentlich. Ich bin, so abgedroschen das klingen mag, einfach dankbar, dass ich gesund bin und rundum zufrieden sein darf. Ich habe andere sterben gesehen. Zu früh, viel zu früh. Da wurde mir klar, was für ein Glückspilz ich bin. Ich habe eine funktionierende Familie. Meine Frau, unsere Tochter und ich, wir führen ein sehr glückliches Leben. Oft denke ich mir: Das gibt’s doch gar nicht, was du für ein großes Glück hast!
Der 70er ist für mich so etwas wie ein erster Sieg. Ich denke mir: Ich hab ein paar ordentliche Sachen hinterlassen, ein paar Spuren, jetzt kommt die berühmte Altersgelassenheit; jetzt bin ich fähig, vieles in Selbstdistanz zu ironisieren. Und in diese Gelassenheit ist auch eine große Ruhe gebettet.
Drehen wir das Rad der Zeit im Zeitraffer zurück: „Oho Vorarlberg“ mit Michael Köhlmeier 1973, 1981 der Big Bang mit „Video Life“. Vorher haben Sie noch schnell ihren Lehrerjob an den Nagel gehängt um das zu werden, was Sie immer schon wollten: Rockstar.
BILGERI: Ich war schon immer ein Rockstar, schon mit vier Jahren. Ich habe immer schon Show gemacht, war immer schon vorlaut. Rockstar wird man ja nicht, Rockstar ist man. Das ist kein Beruf, sondern eine persönliche Angewohnheit. Aber dieses Posing, das dazu gehört, habe ich nie ernst genommen.
Aber nicht nur das Posing macht den Rockstar aus.
BILGERI: Nein, nein. Das ist eine radikale Geschichte! Rock 'n' Roll ist eine Lebensphilosophie. Wenn man auf der Bühne steht, muss man das mit einer großen Wahrhaftigkeit tun. Der Andrenalinstoß muss so stark sein, dass man sterben könnte – vor lauter anarchischem Glück.
Und diesen Kick, diesen Adrenalinstoß, verspüren Sie auch heute noch?
BILGERI: Natürlich. Das ist eine Konditionierung – wie beim pawlowschen Hund.
Wir springen in ein anderes Künstlerleben von Ihnen: 2005 erschien Ihr erster Roman „Der Atem des Himmels“ und wurde mit 65.000 verkauften Exemplaren ein Bestseller. Für die Verfilmung sind Sie ein enormes Risiko eingegangen. Was ist passiert damals?
BILGERI: Ich hatte ja immer schon einen Masterplan. Nachdem ich den Professor und das Gymnasium hinter mich gelassen habe, dachte ich mir: So, zuerst die Rockstar-Kiste, dann Schriftsteller, dann Filme machen. Das musste so sein – und so war es dann auch. Den Rock 'n' Roll hab ich ja schon im Gymnasium durch mein kleines Batterieradio unterm Kopfkissen aufgesaugt. Im Gymnasium habe ich auch zu lesen begonnen, inspiriert durch meinen besten Freund Michael Köhlmeier – ist er übrigens immer noch, mein bester Freund. Schon damals verspürte ich diese Affinität zur Sprache.
Welche Bücher? Jack Kerouac & Co.?
BILGERI: Auch. Und Bukowski natürlich. Aber der wichtigste Autor war für mich der Robert Louis Stevenson und seine Schatzinsel. Das hat mich ungeheuer gefesselt. Das Abenteuerleben war für mich das Um und Auf. Ich wollte nie fremdbestimmt sein, nie im Korsett eines Lehrers hängenbleiben – das habe ich damals nur meinen Eltern zuliebe gemacht.
Zurück zum Abenteuer Film.
BILGERI: Ich habe ein Drehbuch geschrieben – und viele namhafte Produzenten haben sich für das Projekt interessiert. Aber ich wollte selbst Regie führen! Und jetzt ging es um die Finanzierung. Ich hab also das Projekt bei der Förderungsstelle eingereicht. Aber als „First Time Director“, als Novize also, gab es kein Geld. Ich bekam nur Absagen.
Also habe ich beschlossen, mein Haus zu verpfänden und einen Millionen-Kredit aufzunehmen. Aber zur Verpfändung ist es dann zum Glück nicht gekommen. Ich habe einige Probeaufnahmen gemacht, und die zuständigen Stellen haben sich von meiner Leidenschaft anstecken lasssen. Der Film war dann im Kino und im Fernsehen der größte Erfolg der letzten 20 Jahre mit 1,2 Millionen Zuschauern. Die Rechnung ist also aufgegangen, den Kredit habe ich innerhalb von acht Monaten zurückbezahlt, und das Haus habe ich nicht verkaufen müssen. Aber ich hätte es getan, wenn es notwendig gewesen wäre. Das verstehe ich unter Rock 'n' Roll: volles Risiko.
Sie haben später auch das Leben von Erik Schinegger verfilmt. Was hat Sie an diese Geschichte interessiert?
BILGERI: Es sind immer extreme Figuren, die mich reizen - Lebensgeschichten mit Bruchlinien. Und Menschen, die ausloten, wo das Jenseits ist. Das Jenseits ihrer vermeintlichen Grenzen. Und im Fall von Schinegger hat mich besonders gereizt, dass er es dort, wo er am meisten angefeindet wurde, in seinem Heimatort, zu großer sozialer Anerkennung brachte. Menschen, die „On The Edge“ leben, die auf einer Rasierklinge balancieren, die interessieren mich.
Als Musiker können Sie das Extrovertierte auf der Bühne ausleben, als Schriftsteller sich hinterm Schreibtisch zurückziehen. Sind Sie als Künstler eine multiple Persönlichkeit?
BILGERI: Ja, genau. Sie haben vollkommen Recht. Ist das nicht ein idealer Balancezustand. Ich habe beides in mir und kann den Schalter bei Bedarf umlegen. Und da soll ich nicht rundum zufrieden sein mit meinem Leben?