Sechs Jahre sind seit dem letzten englischsprachigen Studioalbum „Loved Me Back to Life“ vergangen, das nicht wirklich Fisch oder Fleisch war und nach einem angestrengt konzipierten Menü schmeckte. Um jede Zielgruppe zu „bedienen“. (Alternativer Hörtipp: "Encore un soir" aus 2016.) Diesmal vermag Céline Dion aber wieder zu berühren. „Courage“ eröffnet allerdings mit dem schon vom Las-Vegas-Abschied im Juni bekannten Motivationssong „Flying On My Own“: ganz nett, aber zu vorsichtig, um eine veritable coole, moderne Nummer zu sein.
Da liebt der Fan das Drama von „Lovers Never Die“ freilich viel mehr, wo das Bittersüße in Célines Gesang aus tiefster Seele kommt. Wie schon auf ihren französischen Werken wünscht man sich mehr von dieser unpolierten Ausnahmestimme, die dadurch den Song noch spürbarer macht – transportiertes Gefühl trotz High-Tech-Produktion.
Die Ballade „Falling In Love Again“ ist kein Single-Kandidat, entwickelt sich jedoch zum großen Emotionskino, ohne eine Sekunde am Mariah-Carey-Kitschgesäusel vorbei zu schrammen. Nicht bloß durch die „rauere“ Herangehensweise in der Interpretation. Anders gesagt: Sie muss nicht zeigen, was sie stimmlich kann, wie weit und wie hoch“ sie noch in der Lage ist, sondern sie spürt und transportiert „Falling In Love Again“.
Es folgen drei Titel, die im Frühherbst vorab veröffentlicht wurden: „Lying Down“ ist einmal mehr eine Kooperation mit Sia, aber viel stimmiger für Céline als der Titelsong des letzten Albums, der eine seltsame Aggressivität ausstrahlte und nicht zu ihr passen wollte. Sowie: „Courage“ als zärtliche Hommage an René und das zwar groovige, aber einige Anläufe brauchende „Imperfections“ (besticht viel mehr, wenn man das ungeschminkte Video gesehen hat).
Mit „Change My Mind“ könnte man eine veritablen Blind-Audition im Radio oder bei „The Voice“ machen: Wer singt denn hier? Da käme man wohl gerade mal auf eine 50-Prozent-Quote für Céline Dion! Ein interessantes Zwischenspiel, wobei sich dann „Say Yes“ eher nach Füllnummer anhört, wobei gerade Céline aus Tausenden Kompositionsangeboten aussuchen kann. Womöglich hat die Auswahl aber auch mit der Treue und dem Vertrauen zu gewissen Produktionsteams zu tun, was dann einen rosigen Aspekt hätte . . .
„Nobody’s Watching“ und „The Chase“ entführen durchaus in andere, ungewohnte Genre-Gefilde und könnten anderssprachig einer Kooperation mit Jean-Jacques Goldman entsprungen sein, mit dem sie in ihrer Langue maternelle den Schlager verlassen konnte und zu einer der intimsten, berührendsten französischsprachigen Interpretinnen (‚D’eux“, „1 fille & 4 types“ etc.) wurde. Zartheit statt Volumen. Authentische, schöne Momente, die viel glaubwürdiger und nach einem inneren Bedürfnis klingen als der Großteil auf „„Loved Me Back to Life“. Als Abschied: „Perfect Goodbye“ singt Céline in der ersten Hälfte nicht als die weltweit sofort erkennbare bekannte Dion, das ist aber in der gesamten Dreieinhalb-Minuten-Nummer dann die Frau, die uns schon sehr nah kam, aber hier unglaublich direkt im gleichen Raum singt. Das macht ihr 2019 keine nach!
Fazit: Viereinhalb von fünf Sternen. Auch für ihre Disziplin für ihre Courage und das heute glaubhafte Gesamtpaket . . . sowieso für „Perfect Goodbye“.
Die Deluxe-Edition bietet vier Aufnahmen mehr. Als Fan will man die natürlich haben! Der Song „Heart Of Glass“ wurde wohl auch schon in ESC-Mainstream-Manier dem (reichen) Aserbaidschan als Song-Contest-Beitrag (mit nationaler Interpretin) angeboten. „Best Of All“ ist Durchschnitt, kann sich jedoch hinterhältig einschmeicheln. "The Hard Way" ist hingegen verzichtbar . . . Bleibt nur die Frage: Wo ist der zärtliche Ohrwurm „Play Me Like A Love Song“, von dem seit dem Spätsommer ein Snippet auf YouTube herumgeschwirrt ist? Denn das klang fast nach einem zweiten „My Heart Will Go On“! Bitte nachreichen! Für die Edition 2020?