Der mehr als zweistündige Brachialreigen von Rammstein wurde, wie auch der Rest der Show, dramaturgisch gewohnt grandios mit Georg Friedrich Händels Feuerwerksmusik eingeläutet. Eine musikalische wie auch visuelle Pyroshow sollte sich im Anschluss über das ausverkaufte Happel-Stadion legen.

Rammstein. Zu viel wurde über sie bereits geschrieben. Zu viel debattiert. Möchte man meinen. Aber das Rrrreininterpretieren fällt bei dem deutschen Skandalphänomen wirklich einfach. Seit jeher. 

Den Anfang machte der wohl persönlichste wie auch beste Song des selbstbetitelten neuen Albums "Was ich liebe". Danach: Gleichschritt. "Kann man Herzen brechen?", fragt Sänger Till Lindemann in "Links 2 3 4". Ein Song wider des für gewöhnlich lokalisierten Standpunkts der Band.

Brutalistische Bühne mit 37 Meter-Turm

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Der über die Stadionsilhouette ragende 37 Meter hohe Turm der brutalistischen Bühne erinnert an Albert Speers nationalsozialistischen Pavillon der Pariser Weltausstellung 1937. Als Orientierungshilfe wurden für den Bühnenturm im Happel-Stadion sogar Lichter für Flugzeuge angebracht. Der Gitarrist Richard Kruspe trägt einen steifen Ledermantel. Um seinen Oberarm schmiegt sich eine rote Schleife. Auch rote Fahnen werden im Stadion entrollt. Nein, was an zwei ausverkauften Abenden im Ernst-Happel-Stadion abgehalten wurde, war keine Wiederauflage des Nürnberger Reichsparteitages. Die Brachial-Provokateure von Rammstein unternehmen lediglich einen Ausflug in die Tabu-Welt.

Groteske und Ekel gehören seit der Gründung im Jahr 1994 zum Standard-Repertoire. Neben Themen wie Kannibalismus, Nekrophilie oder Inzest gehört dazu eben auch die gerne verdrängte Zeit des „Führers“. Oft lief die Band, deren Konzerte einer teutonischen Pyromesse gleichen, Gefahr, sich dabei zu verbrennen. Dass sich die sechs „Ossis“ aus einer totalitären DDR-Perspektive dem westlichen Vaterland annäherten, wurde von Kritikern oft missachtet. Mit dem aktuellen Song „Deutschland“ bezog Rammstein endlich einmal deutlich Stellung. „Deutschland, mein Herz in Flammen, will dich lieben und verdammen.“

Auf dieser Stadion-Tour bröckelt die betonschwere, provokante, ja oft als eindeutig hingenommene Maske der Industrial-Metaller weiter. So viel steht nach den zwei Konzerten in Wien, die gleichzeitig die letzte Station auf der aktuellen Europatour markieren, fest.

Rammstein scheinen experimentierfreudig wie nie zuvor. Sogar einen Ausflug in den wummernden, elektronischen Berliner Untergrund wagen die sechs Ost-Berliner. Via Lift fährt Gitarrist Richard Z. Kruspe den bereits erwähnten Turm nach oben. Dort legt er als "DJ" seinen Remix zu "Deutschland" auf. Unten machen sich derweil die übrigen Bandmitglieder in belichteten Overalls zum Affen. Sie wirken dabei wie leuchtende Skelette. Deutschland: Ein lächerlicher, nationaler Hoffnungsschimmer in der schnell vorüberrauschenden Zeit?

Schlag, Explosion, Feuer

Egal. Es geht Schlag auf Schlag. Explosion auf Explosion. Feuer auf Feuer. "Mein Teil", ein Song über den Kannibalen von Rotenburg, wird kurze Zeit später serviert. Lindemann kocht, wie aus früheren Shows bereits für Fans bekannt, seinen Keyboarder Flake im riesigen Topf. Diesmal neu dabei: Dreifaches Flambieren. Nachdem Flake nicht so richtig durch ist, muss der Menschenfresser mit Flammenwerfern und Kanonen nachhelfen. Für das Lied "Puppe" karrt Lindemann hingegen einen riesigen Kinderwagen auf die Bühne. Mit einer speziellen Brille, die auf die Videowall übertragen wird, kann man dem Sänger beim Zerstören der Puppe zusehen. Es geht aber auch emphatischer.

Eine besondere, für Rammstein sehr fannahe Geste, geht bei "Engel" über die Bühne. Auf einer kleinen Insel abseits der schweren Stahl-Kulisse lässt sich die Band gemeinsam mit der französischen Vorband Duo Jatekok nieder. Eine Piano-Version des Klassikers schallt erhaben durch die Stadionreihen. Rammstein ohne Verpackung, verzerrte Gitarren und Pyroshow: Wunderschön. Besonders witzig: Als würden Flammeninfernos und Feuermeere nicht reichen, zückt ein Großteil der Fans auch bei Balladen wie "Ohne Dich" oder "Diamant" das Feuerzeug.

Danach bewegen sich alle Musiker bis auf Lindemann per Schlauchboot über die Publikumshände hinweg auf die Hauptbühne zu. Dieser wartet indessen bereits am Bühnenufer. In seiner Hand ein Schild: "Willkommen". Eine symbolische, politisch motivierte Aktion? Vielleicht. Wie alles bei Rammstein. Der darauffolgende Song "Ausländer", ein, wie könnte es auch anders sein, höchst irreführendes Stück über die kolonialistische Gegenwart, scheint die Vermutung zumindest zu stützen. Zu stützen, nicht zu bestätigen. Das passt nicht zur Band. Rammstein: Das bleibt eine Vermutung. Eine der besten, die die Unterhaltungskunst kennt.