Das schafft wohl auch nur ein Martin Scorsese: Bob Dylan, wohlausgestattet mit grantiger Genialität, aber weniger bekannt für seine fröhliche Beredsamkeit, plaudert in einem Interview gleich zu Beginn des Filmes mit dem etwas sperrigen Titel „The Rolling Thunder Revue: A Bob Dylan Story by Martin Scorsese“ recht gut gelaunt über die Hintergründe ebendieser legendären Tour.
Freilich wäre es nicht Dylan, wenn er wohlfeile Antworten liefern würde. Auf die Frage, wie er denn die Bedeutung dieser „Revue“, deren Donnergrollen bis heute in der Rockgeschichte nachhallt, einschätzt, antwortet His Bobness: „Ich habe keine Ahnung. Ich war damals ja noch gar nicht auf der Welt.“ Und dann ein typischer Dylan-Nachsatz, eine verbale Tiefenbohrung, die dem Wesentlichen auf den Grund geht: „Im Leben geht es nicht um Suchen oder Finden; es geht darum, sich selbst zu erschaffen.“
Bob Dylan, das Mensch gewordene Enigma, hat sich im Laufe seines Werdens und Wachsens immer wieder neu erschaffen. Die Zeit vor der „Rolling Thunder Revue“ waren für ihn Jahre voll dramatischer Um- und Aufbrüche. Nach einem schweren Motorradunfall 1966 zog sich Dylan aus der Öffentlichkeit und nach Woodstock zurück. Mit seinen Country-Platten verstörte er viele Fans, Mitte der 70er-Jahre beginnt auch das private Idyll zu bröckeln. Das Album „Blood on the Tracks“, eines seiner berührendsten Werke, ist der peinvolle Abschied von seiner Frau Sara. Die Live-Rückkehr mit „The Band“ wird vom Publikum mit gemischten Gefühlen aufgenommen, aber 1975 schließlich kommt dann die „Rolling Thunder Revue“ ins Rollen.
Inspiriert von einem Lagerfeuererlebnis in einem Roma-Camp in Südfrankreich, scharte Dylan ein buntes Künstlervolk um sich: Patti Smith, Joan Baez, Joni Mitchell, T-Bone Burnett, Bob Neuwirth. Allen Ginsberg packte alte Beat-Gedichte aus, Drehbuchautor und Schriftsteller Sam Shepard dokumentierte das Treiben u. a. mit dem Satz: „Es wimmelt von Verrückten.“ Es war ein chaotischer, aber hochkreativer Wanderzirkus, eine ständig anwachsende Vaudeville-Show, die sich da in Bewegung setzte und zu einer Abenteuertour aufbrach, die alle Konventionen hinter sich ließ. Gespielt wurde ab Herbst 75 nicht in großen Stadien, sondern in Tennishallen und Gemeindezentren von kleinen Kaffs. Angekündigt wurden die (Überraschungs-)Konzerte ein, zwei Tage vor dem jeweiligen Termin durch Handzettel und selbst gemalte Plakate.
Martin Scorsese hat diese rumpelnde Rock-Revue nicht nur zu einem herausragenden Konzertfilm zusammengepuzzelt, er schuf daraus das Zeitdokument eines darniederliegenden Landes, das an die Grenzen seiner vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten stieß. Doch im Zentrum des Geschehens, im Zenit seines Schaffens, steht er: Bob Dylan.
Zu Beginn der Tournee mit durchsichtiger Plastikmaske, später mit geweißtem Gesicht und Blumenhut, zelebrierte er voll Kraft und Anmut Auftritte, die zu den besten seines Lebens werden sollten. Die Song-Schatztruhe ist prall gefüllt, während der Tour erscheint auch noch das herausragende Album „Desire“ mit dem Jahrhundertsong „Hurricane“ über den Boxer Rubin Carter und ein rassistisch motiviertes Fehlurteil. In Ewigkeitshymnen wie „Tangled up in Blue“, „Simple Twist of Fate“, „Isis“ oder „It Ain’t Me Babe“ steckt Dylan mit atemberaubender Grandezza Gefühlswelten von ungeheurer Bandbreite: Wut, Trauer, Zärtlichkeit, Bissigkeit, Verzweiflung geben diesen Songs eine noch nie da gewesene Tiefe und majestätische Erhabenheit.
Und einen Satz wie diesen kitzelt wohl auch nur Martin Scorsese aus Bob Dylan heraus: „Wenn jemand eine Maske trägt, sagt er die Wahrheit“, grummelt der Maskenmann in die Kamera. Wie wahr.
Zur Information:
Die „Rolling Thunder Revue“ war eine Konzerttournee einer Gruppe von Musikern, die von Bob Dylan initiiert und angeführt wurde. Sie fand im Herbst 1975 und Frühjahr 1976 vorwiegend in New England statt, unterbrochen von einer Winterpause, in der Dylan sein Album „Desire“ herausbrachte. Ausschnitte der Tournee wurden für Dylans Film „Renaldo und Clara“ (1978), von Kritik und Publikum damals heftig verrissen, verwendet. Im Rahmen der „Bootleg Series“ (Vol. 5) wurden bereits 2002 Aufnahmen mehrerer Konzerte auf einer Doppel-CD veröffentlicht. Die jetzt veröffentlichte Box (Sony Music) enthält 14 CDs und 148 Songs, der Großteil davon in bisher ungehörten Versionen. Dokumentiert sind fünf komplette Shows, auf drei CDs sind Mitschnitte von Proben zu hören, auf denen man gut nachvollziehen kann, wie sich die Songs entwickeln und die Band findet. Abgerundet wird das Paket mit einem 52-seitigen Booklet. Die Filmdokumention von Martin Scorsese (142 Minuten) ist auf „Netflix“ zu sehen.