Ehrlich, was für ein hinreißendes Albumcover. Dua Lipa lehnt, sichtlich entspannt, am Rand eines Swimmingpools. Sie hat die Rückenflosse, die sich ihr nähert, durchaus im Blick, doch erweckt nichts in ihr den Eindruck, als würde sie sich jetzt in dieser Situation von einem Weißen Hai aus der Ruhe bringen lassen. Wenn man so will, und die Sängerin will natürlich so, versinnbildlicht die Aufnahme zu einhundert Prozent die Vision hinter Lipas drittem, „Radical Optimism“ betitelten, Album. „Eine Freundin hat mir das Konzept des radikalen Optimismus ans Herz gelegt“, so die 28-Jährige gegenüber der englischen „Elle“. „Es basiert auf der Idee, dass man selbst das größte Chaos und die heftigsten Herausforderungen mit Stärke, Würde und der größtmöglichen Gelassenheit bewältigen sollte. Wenn du ruhig und ganz bei dir selbst bleibst, dann wirft dich auch der größte Sturm nicht um.“
Um heutzutage ein führender, weltweit reüssierender Popstar, ganz gleich welches Geschlechts zu sein, genügt es nicht mehr, einfach ein paar gut flutschende Songs und ein gefälliges Äußeres zu haben. Der Pop 2024 verlangt nach Visionen, nach irgendetwas Großem, Überwältigendem, nach einer Erzählung, die sich gewaschen hat. Dua Lipa weiß das. Und setzt die Anforderungen präzise um. Schon mit Anfang 20 postulierte die in London geborene Tochter eines Albaners und einer Kosovarin öffentlich ihr Ansinnen, mit ihrer Musik die Welt zu erobern. Und sie hatte schon früh einen Plan. Nach dem zwischenzeitlichen Familienumzug (Lipa hat noch zwei jüngere Geschwister) in den Kosovo im Anschluss an die Unabhängigkeitserklärung des einst zu Jugoslawien zählenden Landes, ging sie mit 15 allein wieder zurück nach London, weil sie eine Karriere als Musikerin anstrebte.
Sie kellnerte, studierte das Nachtleben, schrieb Songs, baute sich ein Netzwerk auf. Pünktlichkeit, Effizienz und totale Fokussiertheit zeichnen sie schon als Teenager aus, bis heute ist Dua Lipa ein Mensch, der keine Zeit verschwendet, schon gar nicht für Blödsinn. Plattenvertrag mit 18, erste Single „New Love“ mit 19, Debütalbum mit 21. Scherte man Dua (der Name heißt auf Albanisch „Liebe“ und war eine Idee der Oma) zunächst noch mit den halbwegs zeitgleich nach oben gespülten Rita Ora, Bebe Rexha und Ava Max über den Kosovo-Albanischen-Wurzelkamm, war spätestens mit dem zweiten Album, ausgerechnet im März 2020 veröffentlichten, „Future Nostalgia“ klar, dass man es hier in puncto Kreativität, Entschlossenheit und Hingabe wohl eher mit einer Künstlerin zu tun hat, die in der Liga der jungen Madonna spielt. Für den schillernden, die damalige pandemische Tristesse aufhellenden, Disco-Power-Pop des Albums bekam Lipa einen Grammy, einen Brit-Award sowie die inoffizielle Lizenz zum Superstarsein.
Nun also folgt, nach einem Hit mit Elton John („Cold Heart“) und der „Barbie“-Soundtrack-Single „Dance The Night“, das Drittalbum „Radical Optimism“. Die Glitzerkugel funkelt immer noch, aber unter der geschmeidigen und melodienstarken Oberfläche lauert eine für Mainstream-Produktionen außergewöhnliche Tiefe. Die Disco-Songs von Dua Lipa klingen nie steril, sie stecken voller Leben und Seele. Lipa experimentiert nun ein bisschen mehr. Sie hat sich Kevin Parker, den Kopf des Psychedelic-Pop-Projekts Tame Impala, ins Kompositionsteam geholt, gemeinsam weiß man Duas Dance-Knaller mit Details, Spielfreude und echten Instrumenten anzureichern. Songs wie die Vorab-Singles „Houdini“, „Training Season“ und „Illusion“ erfreuen mit überdurchschnittlicher Komplexität und werden selbst beim Ofthören nicht öde. Vor allem versprüht „Radical Optimism“ so etwas wie die Essenz des Jungseins und des süßen Vogels Lebensfrische. Lipa und ihr Team – neben Parker sind dies Caroline Ailin, Danny L Harle und Tobias Jesso Jr. – haben sich zudem ein wenig von der groovenden Variante des Brit-Pop, also von Bands wie Primal Scream, beeinflussen lassen, was man jedoch nicht so stark heraushört.
Auch inhaltlich hält das Album ein hohes Niveau. Dua Lipa, die von sich sagt, sie sei reifer geworden, begibt sich auf die Suche nach Sinn, nach Stärke, manchmal auch nach Stille. Natürlich dreht sich vieles um Beziehungsfragen, im ersten Song „End Of An Era“ etwa singt sie, dass die andere Person zwar dann doch nicht so ihr Typ sei, sie es aber immerhin wirklich versucht habe. „Houdini“ und „French Exit“ handeln davon, dass man sich auch mal einfach vom Acker machen kann, wenn die Sache schlecht läuft, „Maria“ von der Frage, wie sehr die neue Liebe von früheren Beziehungen beeinflusst wird. In „Training Season“ deklariert Dua, jetzt langsam genug Übung in instabilen Beziehungen zu haben, der Sommersong „Illusion“ (mit feinem Menschen-in-Badesachen-Poolvideo vor dem Hintergrund Barcelonas) erforscht das Minenfeld zwischen Schein und Sein. Nach einer Reihe nicht so toll gelaufener Liebschaften ist Lipa (die auch schauspielert, jüngst als Bösewichtin in der Spionagefarce „Argylle“) momentan mit dem englischen Schauspielkollegen Callum Turner liiert, hält das Privatleben aber weitgehend unter Verschluss.
Lieber spricht sie über ihren Podcast („Dua Lipa: At Your Service“), den von ihr gegründeten Buchclub oder – als Frau, deren Eltern einst vor dem Bürgerkrieg und den sogenannten ethnischen Säuberungen im heutigen Kosovo flohen – über ihr Mitgefühl mit den Leidenden und Unterdrückten dieser Welt. „Ich habe verinnerlicht, wie wichtig es ist, Mitgefühl zu haben und bei allem Schrecken in der Welt zu versuchen, Resilienz zu zeigen“, sagt sie. Und nichtsdestotrotz, passend zum Albumkonzept, betont Dua Lipa, wie wichtig es sei, Spaß zu haben. „Wir müssen uns die Zeit nehmen, um das Leben zu genießen und es uns einfach so schön wie möglich zu machen“, sagt sie. Mit ihrem neuen Album kommt man diesem Ziel ein gutes Stück näher.
Steffen Rüth