Mit Ende September endet der Korrespondentenvertrag von Paul Krisai und Miriam Beller, sie kehren zurück nach Österreich. Pünktlich zu ihrem Abschied veröffentlichen die beiden mit "Russland von innen" (Zsolnay) ein Buch, in dem sie ihre Beobachtungen aus den vergangenen 19 Monaten sammelten. Wie hat sich Russland und wie haben sich die Russen verändert? Wie lässt es sich heute noch in Russland als Journalist arbeiten? Und wer sind die Menschen, die trotz aller Gefahren und Repressionen noch für ein demokratisches, freies Russland einsetzen? Ein Gespräch über einschneidende Erlebnisse, Erwartungen und Zukunftspläne.
Frau BELLER, Sie kamen 2021 nach Moskau. Herr Krisai, Sie waren dort schon seit 2019. War es für Sie damals denkmöglich, dass Russland bald in einen großen Krieg eintreten könnte?
MIRIAM BELLER: Ich kann darauf kurz antworten: Nein.
PAUL KRISAI: Nicht in meinen verrücktesten Albträumen wäre das möglich gewesen.
Sie kennen Russland und die Russen noch aus der Zeit vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022. Was haben die 19 Monate mit den Russen gemacht?
KRISAI: Bei mir war es so, dass ich Russland 2016 als Austauschstudent kennen gelernt habe. Gefühlt ist das damals ein anders Land gewesen. Ja, es gab damals auch schon klare autoritäre Tendenzen und es war völlig klar, auf welchem Weg sich dieses Land unter Putin befindet. Dass es nicht freier wird, nicht liberaler wird. Aber es war damals noch völlig normal, auch in der Öffentlichkeit über Politik zu reden, sich zu beschweren und vielleicht auch lustig zu machen über die Staatsführung.
Wie ist das heute?
KRISAI: Ich beobachte eine Rückkehr in die eigenen vier Wände. Über Politik wird in der Küche gesprochen. Wie in den Sowjetzeiten. Ich merke an meinem eigenen Umfeld, dass viele nicht mehr in der Öffentlichkeit über sensible Themen sprechen wollen. Über den Krieg, über die Ukraine, über die Politik. Aus Angst, dass man denunziert wird, wenn jemand mithört. Insofern herrscht vielerorts in Russland ein Klima der Einschüchterung, des Misstrauens und der Angst in der Bevölkerung.
Als Korrespondenten arbeiten Sie unter anderen Voraussetzungen als unabhängige Journalisten in Russland, die unter massivsten Repressalien stehen. Wie sieht das Verhältnis zu diesen Kollegen aus?
BELLER: Von den unabhängigen Medien ist ja fast niemand mehr da. Diese Welt ist ausgewandert, etwa nach Riga oder Georgien. Teilweise sind diese Medien in Russland schon als „unerwünscht“ erklärt und jene, die für sie arbeiten werden von der Justiz verfolgt. Direkt zu tun haben wir in Russland mit diesen Kolleginnen und Kollegen also eigentlich kaum mehr.
Was hat die Festnahme des amerikanischen „Wall Street Journal“-Korrespondenten Evan Gershkovich verändert?
KRISAI: Das geht einem nahe. Vor allem dadurch, dass die Zahl der ausländischen Korrespondentinnen und Korrespondenten immer mehr schrumpft, gibt es hier schon eine Art Gemeinschaft. Evan war im selben größeren Freundeskreis. Wir sind nicht persönlich mit ihm bekannt, aber ich war zum Beispiel diese Woche bei einer Gerichtsverhandlung, bei der er dem Richter vorgeführt wurde. Ihn dort hinter der Glasscheibe in diesem Käfig zu sehen, in dem Angeklagte vorgeführt werden, das sind schon Bilder, die einen sehr nachdenklich stimmen. Dieser Fall hat für uns gezeigt, dass diese Illusion von Schutz so nicht mehr gilt. Dass die Staatsmacht bereit ist, wenn es ihr beliebt, einen ausländischen Kollegen unter offenkundig fabrizierten Vorwürfen festzunehmen. Das war wahnsinnig beunruhigend.
BELLER: Evan Gershkovich war für uns eine Zäsur. Uns hat auch schon die Verurteilung des russischen Kollegen Iwan Safronow schockiert, der, ebenfalls wegen fabrizierter Vorwürfe, zu 22 Jahren verurteilt wurde und der noch dazu in unserem Alter ist. Das ist eine extreme Abwärtsbewegung, die offenbar keinen Boden kennt.
An einer Stelle im Buch erzählen Sie von einer Begegnung mit der Ukrainerin Wiktoria und ihrem Mann. Sie war hochschwanger in einer Geburtenabteilung in Mariupol, als eine russische Bombe das Krankenhaus zerstörte. Sie überlebte schwer verletzt, wurde wochenlang im Keller ohne Strom behandelt. Das Kind starb. Später flüchteten sie, ohne andere Wahl, ausgerechnet nach Russland. Eine furchtbare und eindrucksvolle Geschichte. Was machten solche Begegnungen mit Ihnen, wie gehen Sie damit um?
BELLER: Bei Wladimir und Wiktoria war es auch die Situation, dass sie sich dann im Aggressorstaat befanden. Wir saßen mit diesen Menschen in St. Petersburg im Land, das ihr Leid verursacht hat, und wo ihnen nicht geglaubt wird. Gerade dieser Angriff auf dieses Krankenhaus wurde ja auch als Fake News bezeichnet. Ich glaube für uns war wichtig, dass wir untereinander viel geredet haben und solche Erfahrungen im Team aufgearbeitet haben. Wir haben in dieser Zeit ein gewisse Resilienz aufgebaut.
KRISAI: Der Typus des abgebrühten, absolut unerschütterlichen Kriegsreporters ist etwas, mit dem ich nicht viel anfangen kann. Es ist wichtig, dass man sich bewusst ist, dass man ein Mensch ist neben der Rolle als Reporter oder Korrespondent, und dass man es zulässt, diese Erfahrungen zu verarbeiten und damit auch offen umgeht. Gerade unser großartiges Team, war unter wirklich nicht einfachen Bedingungen eine riesige Stütze. Das war für mich mitunter das Wichtigste: Das hier nicht allein durchzumachen.
In einigen Tagen kehren Sie auf eigenen Wunsch in die ORF-Zentrale nach Wien zurück. Was ist der Grund für den Abschied?
KRISAI: Es ist gut an einem gewissen Punkt zu sagen, dieses Kapitel geht zu Ende. Wir haben hier Wochen erlebt, die sich wie Monate anfühlten; und Monate wie Jahre. Wir sind Zeugin und Zeuge von Umwälzungen geworden, die so schon lange nicht passiert sind. Für uns war das Buch eine Möglichkeit all diese Dinge zu verarbeiten, zu dokumentieren. Es ist ein Versuch diese Erfahrung niederzuschreiben. Nicht um eine Prognose für die Zukunft zu bauen, weil dafür ist die Situation zu volatil. Faszinierend wird Russland für mich bleiben und es wird sicher eine Zeit kommen, in der mich das Land wieder in seinen Bann ziehen wird.
BELLER: Für mich ist es ähnlich wie bei Paul, dass es unglaublich lehrreiche, spannende Jahre waren – und anstrengende. Für mich war das eine persönliche Entscheidung, was möchte ich die nächsten Jahre machen. Wo möchte ich jetzt sein? Da habe ich entschieden, dass ich in Wien sein möchte.
Was kommt jetzt?
BELLER: Ich gehe jetzt einmal zurück zur ZIB-Außenpolitik.
KRISAI: Ich kehre auch zurück in die Zentrale nach Wien und freue mich darauf, mich an der umfangreichen Berichterstattung zu beteiligen.
Seit Februar 2022 waren Sie im Fernsehen überdurchschnittlich präsent, waren die Russland-Experten und erhielten gewichtige Journalismus-Preise. Wie sehen Sie den Schritt zurück in die zweite Reihe?
BELLER: Davon haben wir hier in Moskau nicht allzu viel mitbekommen. Wir haben gearbeitet und produziert. Umso schöner ist es für uns jetzt eine Lesereise machen zu können, wo wir in Kontakt mit den Menschen kommen, für die wir ja die Berichterstattung machen.
KRISAI: Du sitzt in Moskau in einem Büro und starrst auf ein schwarzes Loch, das ist die Kamera, und redest wie ins Nirwana. Du sprichst, ohne Gesichter zu sehen. Das ist etwas, auf das ich mich wirklich freue: Die Menschen kennen zu lernen und mit Ihnen über Russland und den Krieg in der Ukraine zu diskutieren.
Viele Menschen wünschen sich ein Buch zum Geburtstag. Sie schrieben Ihre eigenes, das an ihrem 29. Geburtstag erscheint. Ein passables Geschenk an Sie selbst, Herr Krisai?
KRISAI: Wie Weihnachten und Ostern zusammen, würde ich sagen.