Es ist wie in jeder guten Beziehung. Am Ende lässt sich nicht mehr genau sagen, wann und wo der Anfang vom Ende einsetzte. Begann der Abstieg mit dem Ausstieg aus dem Zeitungsgeschäft mit Titeln wie "Berliner Zeitung" (2002) und "Financial Times Deutschland" (2012)? Mit dem für einen Fotojournalismus prägenden Verlag überraschend verpassten Einstieg ins Onlinebusiness? Oder schon mit dem Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher (1983), die Gruner + Jahr mit dem Film "Schtonk" immerhin ein cineastisches Denkmal bescherte. Fest steht nur: Es ist vorbei mit Gruner + Jahr und einem der größten Zeitschriftenverlage Europas. Nur Flaggschiffe wie "stern", "Geo" und "Gala" bleiben. Der Rest wird eingestellt oder steht zum Verkauf. Darunter Magazine wie "beef", ein Heft für Jungs am Herd, das wohl wenige vermissen. Und anderes, was neue Akzente im Journalismus setzte, wie das Fußballheft "11 Freunde".

"Wir haben entschieden, uns auf die Kernmarken zu konzentrieren", erklärte Thomas Rabe. Rabe ist Chef des Mutterkonzerns Bertelsmann, dessen TV-Tochter RTL das Zeitschriftengeschäft von Gruner + Jahr zuletzt zugeschlagen wurde. Rund 700 von 1900 G+J-Beschäftigten müssen gehen. Das Restgeschäft des Verlags soll als News-Content-Lieferant näher an den TV-Sender rücken. Von "erheblichem Mehrwert von etwa 75 Millionen Euro jährlich in so wichtigen Bereichen wie Inhalte, Vermarktung, Tech & Data sowie bei den Corporate-Funktionen", sprach Rabe.

Deshalb muss man Rabes Sätze mit Kernmarke, Mehrwert, Corporate klingen lassen. In diesen Worten zeigt sich die Distanz, die zwischen dem Konzernsitz von Bertelsmann in Gütersloh und dem Verlagsort von Gruner + Jahr in Hamburg liegt. Es sind Welten. Das westfälische Unternehmen Bertelsmann ist aus einem Druckhaus entstanden, im Dritten Reich wurde die Firma mit Bücherlieferungen für die NS-Wehrmacht groß. Gruner + Jahr, gegründet 1965 von dem Druckereibesitzer Richard Gruner, dem Journalisten John Jahr und Gerd Bucerius, dem Verleger der Wochenzeitung "Die Zeit" – verstand sich stets als Verlagshaus. "Brennt in der Hölle wirklich ein Feuer", titelte der "stern" in den 60er-Jahren und löste damit einen Eklat aus. Die Union schäumte und forderte eine Entschuldigung. Bucerius, CDU-Bundestagsabgeordneter, sah in dem Vorgehen einen Angriff auf die Pressefreiheit. Er reagierte auf seine Weise und kabelte per Telegramm: "Der Beschluss des Bundesvorstandes ist ein mir unbegreiflicher und in der CDU nicht üblicher Fall von Intoleranz." Punkt. "Er zwingt mich, die CDU und den Bundestag zu verlassen." Ende. Das ist verlegerische Unabhängigkeit.

Unabhängig war Gruner + Jahr. Nicht nur beim "stern". In der "Süddeutschen Zeitung" betonte Willi Winkler jetzt zum Abschied die Bedeutung der G+J-Frauenzeitschrift "brigitte": "Sie lieferte für die weibliche Welt nicht nur alles Nötige zur neuen Herbst- und Wintermode, sondern verstand die Dauer-Rubrik 'Machen Sie mehr aus ihrem Typ' grundsätzlich: Das Magazin bot für das metropolenferne Publikum in jeder Hinsicht Lebenshilfe." Emanzipation in Druckform. Gruner + Jahr verband mit Journalismus eine freiheitliche, fast aufklärerische Mission. Folgerichtig, dass Angela Merkel die Einführung der Homo-Ehe 2017 bei einem "brigitte"-Gespräch in einem Berliner Theater ausrief. Journalismus ist wie Demokratie – es braucht die Bühne.

Gruner + Jahr verknüpfte Kaufmannstradition – durchaus gewinnorientiert – mit hanseatischem Bürgersinn. Bertelsmann tickt anders. Hier herrscht stures, westfälisches Unternehmertum: pure Gewinnmaximierung. Unterm Strich zähl' ich. Inhalt war Gütersloh reichlich egal. Kein Wunder, wurde der Konzern doch nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Buchclub groß: dem Nachdruck von Erfolgstiteln – auf möglichst dünnem Papier. Billig war Bertelsmann alles. In Hamburg konnte man rechnen. Bertelsmann versuchte die Welt stets in eine metrische Matrix zu pressen – ganz so wie in der Betriebswirtschaft.

Gruner + Jahr hingegen setzte auf Inhalt. Deutschland verbindet mit dem Verlag große Skandale, nicht nur bei den Hitler-Tagebüchern. Und es verdankt dem Verlag legendäre Debatten-Titel wie "Ich habe abgetrieben." Der "stern"-Reporter Jürgen Serke bewahrte Ende der 70er mit der Serie "Verbrannte Dichter" vor den Nazis geflohene Autoren wie Irmgard Keun vor dem Vergessen. Der "stern" rückte 1987 auch den tot in der Hotelbadewanne aufgefundenen CDU-Politiker Hans-Uwe Barschel auf den Titel und schockte damit das Land. Gruner + Jahr war prägend mit seinem Fotojournalismus, eine Art ikonografisches Archiv der Bundesrepublik. Eigentlich war der Verlag prädestiniert für eine Karriere im Netzzeitalter.

Gute Medien sind nicht nur Unterhaltung. Sie sind ein Debattenort. Und damit auch entscheidend für die Demokratie. In Gütersloh haben sie das nie recht verstanden. Hier dominiert der Rechenstab. So stehen jetzt bei G+J auch Titel vor dem Verkauf, die schwarze Zahlen schreiben. Gewinn ist zu wenig. Bertelsmann wünscht Umsatzrendite.