"Wir sind Frauen des Schattens", sagt Patricia Lesage. Frühmorgens putzt die 57-Jährige einen Kinderhort und das ist nur einer ihrer Jobs, mit denen sie sich über Wasser hält. Vier Kinder hat sie großgezogen, ihr Leben lang gearbeitet, und doch wird sie, wenn sie in Pension geht, nicht mehr als 270 Euro bekommen. Patricia Lesage ist alles andere als ein Einzelfall, die schleichende Armut betrifft Alte wie Junge, gut, wie weniger gut ausgebildete Menschen.
Der britische Soziologe Guy Standing hat sich mit dieser gesellschaftlichen Entwicklung in seinem Standardwerk "Prekariat" auseinandergesetzt: "Das Prekariat besteht aus vielen Millionen Menschen, denen gesagt wird, sie sollen sich an unsichere Arbeit gewöhnen. Sie leben in vielerlei Hinsicht in Unsicherheiten. Sie leben in Bruchstücken", skizziert er die alltäglichen Lebensumstände vieler in der sehenswerten Arte-Doku "Arm trotz Arbeit – Die Krise der Mittelschicht" (Dienstag, 20.15 Uhr und in der Mediathek). Die Filmemacher Katharina Wolff und Valentin lassen Betroffene wie Experten und Expertinnen zu Wort kommen.
Erzählt wird nicht nur von den alltäglichen Nöten, sondern auch von der massiven Angst vor dem Abstieg, dem permanenten Druck der Unsicherheit, die sich auch gesellschaftspolitisch massiv niederschlägt, warnt Guy Standing: "Wenn wir nicht dringend die Bedürfnisse des Prekariats angehen und etwas gegen die wachsende Unsicherheit machen, wird bald ein politisches Monster entstehen."
Viele Betroffene sind nicht nur politikverdrossen, sondern auch wütend. Flexible Arbeitsverträge, mangelnde soziale Absicherung und ein Lohn, der nicht mehr zum Überleben reicht. Hinzu kommen die Folgen der Pandemie und die aktuelle Teuerung, welche die schleichende Entwicklung massiv beschleunigen. Die Doku richtet den Blick auf die Auslöser dieses Prozesses, aber auch auf Gegenstrategien, um dem Zersetzungsprozess entgegenzuwirken. Auch wenn es oft nur lokale Initiativen sind, wie etwa ein Solidaritätsnetzwerk oder eine Kooperative gegen die Ausbeutung der Fahrradkurierfirmen, es sind Formen von Selbstermächtigung gegen die politische Untätigkeit. Eine Doku, die durch die Augen der Betroffenen auf das große Ganze blickt und mit aller Dringlichkeit die Notwendigkeit eines Umdenkens einfordert.