Es sind die beiden Pole der Netflix-Welt: Da wäre auf der einen Seite „Squid Game“, die südkoreanische Serie, in der hoch verschuldete Menschen bei einer monströsen und menschenverachtenden Show für VIPs entweder ihr Leben verlieren oder ein gigantisches Preisgeld gewinnen können: 142 Millionen Netflix-Profile haben in den ersten vier Wochen darauf zugegriffen. Dem gegenüber steht „Bridgerton“, eine Kostümserie über das (Liebes-)Leben der High Society im frühen 19. Jahrhundert – im ersten Monat von 82 Millionen Netflix-Profilen angeschaut. Zwei Serien, zwei Publikumserfolge, wobei nicht nur böse Zungen behaupten, dass die Verschacherei der adeligen jungen Damen am Heiratsmarkt auch nicht gerade menschenfreundlich ist.
Es ist kein Zufall, dass beide Serien unter den Topsellern des Streamingdienstes sind – beide sind am Punkt der Zeit: „Squid Game“ mit seiner verdichteten Kapitalismuskritik und „Bridgerton“ als Gipfel des Eskapismus. Die erste Staffel traf Ende 2020 den Nerv der Zeit: sich einfach in eine andere Welt zu transferieren, ein Holodeck in eine Welt aus Pomp, Trara und Ballsaison. Der Hyperindividualismus war noch nicht erfunden, aber die Aufmerksamkeitsökonomie in ihrer frühesten Form gab es schon: Bei der alljährlichen Ballsaison müssen die vornehmen Damen um die Gunst der Herren rittern – aus unterschiedlichen Motivlagen heraus: Sei es ob des gesellschaftlichen Ansehens oder ökonomischer Notwendigkeit, um die Familie vor dem gesellschaftlichen Abstieg zu bewahren.
Im Mittelpunkt der Serie, umgesetzt von der Erfolgsproduzentin Shonda Rhimes, steht die reiche Familie Bridgerton, die pro Staffel eines ihrer acht Kinder unter die Haube bringen will. Nachdem Daphne in der ersten Staffel ihren Herzog ergattert hat, ist nun der Älteste, Anthony, am Zug. Der Salonlöwe und Hausvorstand will natürlich nicht weniger als die „perfekte Frau“, aber bekommt ein klassisches Duell á la „Stolz und Vorurteil“ serviert. Es ist nicht die vermeintlich Auserwählte, sondern deren scheinbar strenge Schwester, die ihm Paroli bietet.
Wie überhaupt in der zweiten Staffel Eros seinen lächerlichen Liebespfeil-Kinderbogen einpacken kann, wenn die Damen das Gewehr anlegen – nicht nur theoretisch. Die Rebellinnen haben ihre Fahne aufgezogen und das verleiht der zweiten Staffel eine durchaus amüsante Dynamik, die nicht automatisch im Zuckerschock endet. Tochter Eloise Bridgerton, ohnehin auf Krawall gebürstet, muss debütieren, aber lässt wie immer gekonnt die Spießerverachtung raushängen. Wie auch sonst, wenn das Orchester „Girls Just Want to Have Fun“ von Cyndi Lauper spielt. Und selbst Lady Whistledown schlägt ganz neue Töne an.
Ganz grundsätzlich gewährt die zweite Staffel einen besseren Blick auf die Strategien der weiblichen Figuren, die wie Schachspielerinnen ohne viel Aufhebens ihre sehr geschickten Züge machen, ohne ihre Erfolge wie Kriegsherren lautstark zu feiern. Ach ja, keine Sorge, das Konzept der „wahren Liebe“ ist auch wieder mit dabei, wie auch Tonnen von Kleiderstoff und Kuchen. Und falls sich wer fragt: Es gibt weniger Sex, also viel weniger Sex und die beste Performance einer nicht sprechenden Nebenrolle ist fix an den Corgi vergeben.