Es ist ein zutiefst verstörendes Bild, das die „New York Times“ (NYT) erst Sonntag auf ihrer Website und dann Montag großformatig auf ihrer Titelseite gezeigt hat: Eine auf der Flucht getötete Familie und den vergeblichen Versuch eines ukrainischen Soldaten, den Vater noch zu retten.
Diese Abbildung in einem globalen Leitmedium verlangt nach einer medienethischen Debatte. Sie ist prompt ausgebrochen – zeitgemäß zuerst dort, wo Tiefgang kaum funktioniert. Allein die Tatsache einer solchen Diskussion in digitalen Netzwerken, die sich doppelt unsensibel als „soziale Medien“ behaupten dürfen, wirkt als Fortschritt. Der Tenor auf Twitter & Co. geht allerdings in die Richtung, die Gräuel des Krieges ungeschminkt zu zeigen. Am ehesten Journalisten plädieren dort dagegen.
Sie erhalten in herkömmlichen Medien ausführliche Unterstützung von der Forschung: So ortet die Kommunikationswissenschaftlerin Katharina Lobinger eine Grenzüberschreitung und erklärt im „Standard“ auch warum: Die Darstellung der russischen Grausamkeit sei durchaus zu rechtfertigen, doch dazu benötige es nicht die Gesichter der Toten. Ihre Gesichter hätten verpixelt werden müssen.
Abgesehen von diesem grundsätzlichen Persönlichkeitsschutz gibt es einen Aspekt, der durch die „redaktionelle Gesellschaft“ entsteht. Laut dieser Vision des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen muss sich heute jeder eine Frage stellen, die früher nur für Journalisten zentral war: Was verdient Öffentlichkeit und was besser nicht? Dabei geht es aber auch darum: Welche Publizität?
„Kurier“-Fotograf Jürg Christandl, der selbst aus dem Kriegsgebiet berichtet hat, liefert dazu einen guten Hinweis. Er teilte einen Tweet über das Bild: „Schwer anzusehen, aber es ist gut, dass die NYT zeigt, wie Krieg aussieht. Nämlich genau so. Für alle, die finden, man darf das alles nicht zeigen: Einfach nicht klicken.“ Doch was für Twitter machbar ist, gilt nicht für die Titelseite der „New York Times“. Dort sind die Abonnenten der Wucht des Fotos ohne Abwehrchance ausgesetzt. Schon seine Platzierung auf einer Innenseite hätte zumindest eine Entscheidung zum Überblättern ermöglicht.
Der Grat zwischen Informationsnotwendigkeit und Sensationsgier ist extrem schmal. Journalismus muss sich aus dem babylonischen Sprachgewirr und aberwitzigen Tempodiktat einer redaktionellen Gesellschaft dadurch abheben, indem er a) diesen Balanceakt nie leichtfertig eingeht und b) die Absturzgefahr transparent thematisiert. Das schützt ihn nicht vor dem freien Fall, doch bietet ihm ein argumentatives Auffangnetz.
Peter Plaikner ist Politikanalyst und Medienberater mit Standorten in Tirol, Wien und Kärnten.