Die Serie führt zurück zu den Masken, die wirklich die Welt bedeuten. Keine, die Mund und Nase, sondern Intentionen und eigene Unzulänglichkeiten verbergen. Wer im Welttheater die richtige Maske wählt und seine Rolle so raffiniert wie AnnaSorokinspielt, der kann sich bis ganz nach oben bluffen.
Die reale gebürtige Russin, die als Hochstaplerin Anna Delvey ab 2013 die New Yorker Schönen und Reichen molk, stand Modell für die Netflix-Serie "Inventing Anna". Jede Folge warnt zu Beginn, dass diese Geschichte vollkommen wahr sei – bis auf jene Teile, die frei erfunden wurden. Dieser etwas plumpe Freibrief ist ein Hinweis auf das Spiel mit der Fiktion, das jede Pore dieser Produktion durchdringt.
Ein Spiel, das die reale Anna Sorokin beherrschte: Sie lieh sich Privatjets, ohne zu zahlen, wohnte mit wertlosen Kreditkarten in den besten Hotels und wickelte die Hautevolee im Big Apple um den Finger, bis sie auf den unüberwindbaren Endgegner Rechtsstaat traf – und erst recht berühmt wurde. Eine Geschichte, die der Streamingdienst Netflix haben musste.
Anna Delvey zu mögen, fällt schwer. Sie ist egomanisch, manipuliert notorisch, und ihre Emotionen legt sie an und ab wie einen Mantel. Erst als die Investigativjournalistin Vivian in Rückblenden den Lügenschleier millimeterweise hebt, kommen neue Facetten dieser puppenhaften Matrjoschka an die Oberfläche. Wie Delveys Opfer den Betrug nicht sehen wollten, hat allerdings auch Vivian Talent zur Verdrängung. All ihre inneren Widerstände – sie ist hochschwanger – werden konsequent weggeatmet.
Erstaunlich ist weniger der hohe Unterhaltungswert, der in "Inventing Anna" pompös von der realen in die Serienwelt übertragen wird, sondern ausgerechnet die Authentizität, mit der die 28-jährige Schauspielerin Julia Garner die Narzisstin mit Leben erfüllt: Optisch sind die reale und fiktive Anna Sorokin/Delvey auf vielen Bildern kaum zu unterscheiden.
Schöpferin der Verfilmung ist ShondaRhimes, die als Produzentin Großerfolge wie "Greys Anatomy", "How to get away with murder" und zuletzt "Bridgerton" für sich verbuchen kann. "Inventing Anna" ist ein Erzählstück, das der sogenannten "guten Gesellschaft" permanent den Spiegel vorhält: Wie #MeToo als alter Hut abgehandelt wird, wie sich reiche Damen ihre feschen, armen Buben halten, wie Kunst als fesches Zierwerk des Reichtums wird. Nicht Anna treibt die Maskerade auf die Spitze, die obersten Heuchler sind andere. Etwa ihr in der Start-up-Szene gefeierter Freund, der die Kommerzialisierung von Träumen verspricht und das Investorengeld bloß für das Design und die Programmierung seiner App ausgibt – Oberfläche ist alles.