Als eine jener 35 Personen, die am 10. August in offener Abstimmung über den/die ORF-Generaldirektor*in für die Funktionsperiode 2022–2026 entscheiden, möchte ich darlegen, worum es dabei aus meiner Sicht geht.
Quo vadis, ORF? Jeder Versuch, den ORF zu einem unkritischen Regierungsfunk umzugestalten, wäre angesichts der selbstbewussten, qualifizierten und kritischen Informations- und Programmmacherteams zweifellos zum Scheitern verurteilt.
Es geht nicht um eine „Orbanisierung“, sondern darum, dass der ORF auch künftig mit seinem öffentlich-rechtlichen Auftrag für Demokratie und Gesellschaft unverzichtbar systemrelevant bleibt – genauso, wie es Qualitätszeitungen sind.
Der ORF und die Medien verlegerischer Herkunft gehören zu den wenigen „Gewinnern“ der Coronakrise, da glaubwürdige und seriöse Information als Widerlager zu Fake News und gefährlichen Blasenbildungen mit Verschwörungstheorien von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung besonders geschätzt wird. Dieses Asset muss für die Zukunft genützt werden. Denn die Quotengewinne des Jahres 2020 sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ORF-Senderflotte zwar gegenüber 2019 zugelegt, gegenüber den Jahren davor aber verloren hat. Der alljährliche Abwärtstrend hat speziell ORF 1 erfasst, bei dem es in den letzten Jahren zu einer Halbierung gekommen ist. ORF 2 behauptet sich gut, der 2011 gegründete Spartensender ORF III ist eine Erfolgsgeschichte mit kontinuierlich steigenden Quoten, logischerweise auf niedrigem Niveau. Das Wachstum der ORF-TVthek und von orf.at ist erfreulich, aber ausbaufähig.
Das weist auch schon den Weg, den der ORF in Zukunft gehen muss: Die Quoten zeigen, dass das sogenannte „lineare Fernsehen“ tendenziell rückläufig ist – ganz dramatisch bei der jungen Zielgruppe. Die „digital natives“ leben zwar mit dem Smartphone, als wäre es ein integraler Körperteil, aber sie sehen nicht zu geregelten Zeiten, sondern selbstbestimmt fern. Es gilt sie durch eine forcierte „Digitalisierungsoffensive“ mit den auch für sie interessanten rund um die Uhr abrufbaren ORF-Contentangeboten zu erreichen. Dies kann und muss auf dem spät, aber doch begonnenen ORF-Player-Projekt und zahlreichen Social-Media-Kanälen möglichst rasch umgesetzt werden.
Gleichzeitig gilt es, auch die „linearen Kanäle“ stärker zu profilieren – der ORF muss in den kommenden Jahren als wichtigste Content-Plattform für spezifisch österreichische Inhalte in allen Bereichen wahrgenommen werden. In diesem Sinne hat der Stiftungsrat eine ORF-Strategie 2025 initiiert und mit überwältigender Mehrheit – nämlich aller in ihm vertretenen Gruppen – beschlossen.
Natürlich ist für die optimale Umsetzung eine Gesetzesänderung höchst wünschenswert– nämlich, dass ORF-Inhalte zeitlich unbegrenzt abgerufen und teilweise auch vor der TV-Ausstrahlung online präsentiert werden können. Auch bezüglich der „Streaminglücke“ bei den Gebühren besteht Handlungsbedarf.
Ausständige gesetzliche Regelungen dürfen aber nicht als Ausrede dafür benützt werden, dass das Mögliche – und das ist viel – nicht getan wird. Es geht um fundiertes, rasches und mutiges Handeln und nicht um Taktieren. Das Zuwarten auf möglicherweise politisch opportune Zeitpunkte, wie es schon zu oft geschah, beeinträchtigt die Zukunftschancen eines ORF, der als Leitmedium auch eine ehrliche Partnerschaft mit den anderen österreichischen Medien suchen muss, um gemeinsam gegen Netflix, Apple, Google, Amazon & Co zu bestehen.
Daran wird der Stiftungsrat die Kandidat*innen am 10. August zu messen haben.
Herwig Hösele, ehemaliger Präsident des Bundesrates (ÖVP), beschäftigt sich seit 50 Jahren mit Medienfragen und ist seit 2014 von der Bundesregierung entsandter ORF-Stiftungsrat.
Herwig Hösele