Es soll schon vorgekommen sein, dass man in der Badewanne sitzt, privat in New York weilt und der Kanzler anruft - wegen eines Tweets, den man abgesetzt hat. Nach wie vor ist Twitter der Tummelplatz der Meinungsmacher. 12 der 17 Regierungsmitglieder sind auf Twitter, auch der Bundespräsident, die Oppositionschefs. Wer von den Entscheidungsträgern die Finger davon lässt, ist dennoch bestens informiert. Wohl gibt es keinen einzigen Presse- oder Konzernsprecher, der nicht auf Twitter ist. Manche aktiv, viele nur passiv, um ja nichts zu versäumen.
In einem Punkt hat Twitter ausgedient: als Agora des 21.Jahrhunderts, als Ort des Diskurses, wo lustvoll und beherzt gestritten wird, Argumente ausgetauscht werden, um die beste Meinung gerungen wird. Lang ist die Liste jener, die Shitstorms über sich ergehen lassen mussten und hinausgemobbt worden sind, weil nicht dem Mainstream entsprochen wurde. Spektakulärster Rückzug im deutschsprachigen Raum ist der Chef der deutschen Grünen Robert Habeck, vielleicht der nächste Kanzler, falls es zur Ampel kommt. „Es war eine der weisesten Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe, da rauszugehen.“ Und „Offenbar triggert Twitter in mir etwas, aggressiver, lautet, polemischer zugespitzter zu sein. Und alles in einer Schnelligkeit , die es schwer macht, dem Nachdenken Raum zu lassen. Offenbar bin ich nicht immun dagegen.“ Auch in Österreich hat Twitter Bassena-Niveau erreicht, aber das gilt auch für Online- und andere Foren.
Das ist nur eine Seite der Medaille. Twitter ist die schnellste Nachrichtenagentur der Welt, schneller als CNN oder jede Push-Nachricht - ideal für jeden News-Junkie. Alle Medien dieser Welt sind situationselastisch abrufbar, eine Art Super-Google, ergänzt durch Blogger und Einzelpersonen, die etwa die Bilder der Proteste in Belarus seit Dezember in die weite Welt hinaustragen.
Twitter ist nicht nur der Ort für Polit-Haikus, sondern dient als auch primäre Informationsdrehscheibe. So wird jede neue Verordnung zu Corona und anderem sofort frei ins Haus geliefert. Beim Terroranschlag trat die Wiener Polizei in direkten Kontakt mit der Bevölkerung, um zu warnen oder zu beruhigen. Ehemalige Kanzler sondern Politik-Haikus ab. Darüber hinaus eignet sich Twitter als Rechercheplattform, um mit geringem Aufwind herauszufinden, ob die Versprechen der Regierung (Versorgung der Älteren mit Masken, Versorgung mit Schnelltests) tatsächlich erfüllt worden sind. Und für Artikel der eigenen Zeitung als Distributions- und Werbekanal.