Merke: Wenn du mal in die Verlegenheit eines Banküberfalls kommst, dann bitte immer schön höflich sein, denn meistens sind es Frauen, die am Schalter arbeiten. Als uns Cherry (Tom Holland) diesen sehr freundlichen Tipp mit auf den Weg gibt, raubt er übrigens gerade selbst eine Bank aus. Da steht er nun, ein freundlicher junger Mann. Doch wie kommt er dorthin?
So beginnt also „Cherry“ (Apple TV+). Die zwei Regisseure dahinter sind keine Unbekannten: Joe und Anthony Russo, gemeinsam haben sie bereits vier Marvel-Filme gedreht, darunter „Avengers: Infinity War“ und „Avengers: Endgame“. Tom Holland wandelt sich vom Helden Spider-Man zum Antihelden Cherry. Die Handlung ist schnell erzählt: Junge trifft Mädchen in einer dieser zahllosen US-Provinzstädte. Sie verlässt ihn Knall auf Fall und im gleichen Modus schreibt er sich in einem Anflug von Selbstmitleid bei der Army ein. Bis dahin erzählt uns Cherry aus dem Off in süffisant-melancholischer Tonart von der immer gleichen Tristesse dieser Orte, ihrer Menschen und ihrer Hoffnungen und Wünsche.
Fünf Kapitel haben die Russos in den Film gepackt und nicht selten verlieren sie sich in einem „zu viel wollen“: Superschnelle Perspektivenwechsel, Farbwechsel oder Anleihen an Filmklassikern, das funktioniert manchmal hervorragend, manchmal ist es jedoch weit über dem Punkt. Cherrys Kriegseinsatz im Irak hingegen nähert sich von der Computerspiel-Vogelperspektive in kleinen Schritten dem Grauen an. Genau das nimmt Cherry auch mit nach Hause. Ein Kipppunkt: Die posttraumatische Belastungsstörung erweist sich als massives Störfeuer in der Beziehung. Alkohol und immer wieder Medikamente. Aber nicht irgendeines, sondern Oxycodon. Auslöser der Opioidkrise, die ganze Landstriche in den USA seit Jahren in den Abgrund reißt. Viele Jahre wie Zuckerl verschrieben, führen sie in die schnelle Abhängigkeit. Wer sich den Nachschub nicht leisten kann, steigt meist auf das billigere Heroin um. So wie Cherry und Emily (Ciara Bravo). Die Regisseure legen somit zwei wunde Punkte frei: traumatisierte Soldaten und die Opioidkrise.
Das, was die Serie „Wir Kinder von Bahnhof Zoo“ aufgrund ihres Ästhetizismus nicht geschafft hat, gelingt bei „Cherry“: die Darstellung schleichender psychischer und physischer Verwahrlosung mit fortschreitendem Drogenkonsum. Eine totale Abwärtsspirale, die durch die zwei Fragen angedreht wird: Wie komme ich zum nächsten Schuss und wie finanziere ich ihn? Die Antwort ist das Taumeln von einem Rausch in den nächsten: Bankraub. Und genau das ist das Problem: Die überbordende Raubinszenierung geht zulasten der angeschnittenen Problemfelder. 2 Stunden 20 Minuten – Verdichtung muss nicht unbedingt auch eine Verschlechterung des Filmes bedeuten. Und doch: Tom Holland gibt den trotz allem liebenswerten Antihelden überzeugend. Weniger ist mehr und trotzdem ist er nicht weniger sehenswert.