"Die Zeit“ ist 75 Jahre alt. Das klingt so paradox, wie das Leibblatt der Intelligenzija dem Medienwandel trotzt. Rüstiger kann ein Senior nicht sein als dieses publizistische Schwergewicht: 550.000 Exemplare, zwei Millionen Leser pro Woche. Mehr Reichweite hatte sie nie zuvor. Auf Papier wohlgemerkt. Im Nordischen Format. Fast doppelt so groß wie die „Salzburger Nachrichten“, beinahe viermal die „Kleine Zeitung“. Zuletzt wurde 2018 die Umstellung auf handlicheres Tabloid beraten. 2020 folgte die Rekordleserzahl. Diskussion beendet. Doch das ist kein Dinosaurier, der ohne Print-Publikum seine Lebensgrundlage verlöre. Mit 17,5 Millionen Unique Usern ist „Zeit Online“ eines der populärsten digitalen Medienangebote. Zur Orientierung: Boulevard-Gigant „Bild“ hat 27 Millionen Nutzer. Die Qualität hält wacker dagegen. Vor acht Monaten durchbrach sie die Schallmauer von 100.000 voll bezahlten Digital-Abos.
„Die Zeit“ ist aber mehr als ein Flaggschiff der digitalen Transformation für alle Medien verlegerischer Herkunft. Sie hat als Papierprodukt in den vergangenen zehn Jahren 400.000 zusätzliche Leser gewonnen. Eine Steigerung von 27 Prozent, während nahezu alle anderen Einbußen verzeichnen. Die Ursache dieses Erfolges ist konsequente Markenpflege auf beiden Seiten der Medaille – Journalismus und Geschäft. Dafür sorgt im Scheinwerferlicht Giovanni die Lorenzo als Chefredakteur. Als er 2004 zur „Zeit“ kam, war ihre letzte ernsthafte Konkurrenz „Die Woche“ (1993–2002) gerade verblichen. Mindestens so wichtig ist aber Geschäftsführer Rainer Esser, der bereits seit 1999 hinter den Kulissen die Fäden zieht. Beim European Newspaper Congress in Wien 2013 erklärte er beeindruckend die behutsame Marken-Expansion: Ein Würstelstand passe wohl kaum zur „Zeit“, aber ein Haubenlokal?
Die Buchstabensuppe schmeckt auch hierzulande: Die seit 2006 produzierte Österreich-Ausgabe erreicht mit 30.000 Exemplaren über 100.000 Leser. Der Austro-Bezug ist aber noch stärker: Den Aufsichtsrat der „Zeit“-Muttergesellschaft leitet der frühere „Kurier“-Chef Michael Grabner. Als Stellvertreter fungiert der Vorarlberger Medieneigner Eugen Russ. Und Florian Klenk, unter dessen Ägide die Wiener Wochenzeitung „Falter“ ihre Reichweite vervielfachte, holte sich das wichtigste Know-how dafür bei seinem eineinhalbjährigen Gastspiel in Hamburg. Die größte Herausforderung dort ist die Suche nach ähnlichen fähigen Nachfolgern für die aktuellen Macher der 75-Jährigen. Aber dazu bleiben noch ein paar Jahre – „Zeit“.
Peter Plaikner ist Politikanalyst und Medienberater mit Standorten in Tirol, Wien und Kärnten.