Ferdinand von Schirach hat uns und unser Lese- oder Sehempfinden schon oft gefordert. Nicht selten nachhaltig und schmerzhaft. Kaum jemand analysiert wie er, wie dünn die Linie zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen Gut und Böse, zwischen Täter und Opfer sein kann. Heute Abend wagt das öffentlich-rechtliche Fernsehen – wieder einmal – nach seiner Vorlage ein kleines Experiment. Diesmal geht es am Ende eines Prozesses nicht um die Frage, ob jemand verurteilt werden soll oder es ein Recht auf Sterbehilfe gibt. In „Feinde“ wird die Gewissensfrage radikaler gestellt: Eine im Kern unverändert idente Geschichte wird in zwei Filmen aus zwei Perspektiven mit toller Besetzung bis in die kleinsten Nebenrollen erzählt. Einmal aus jener des Ermittlers Peter Nadler (Bjarne Mädel) und einmal aus jener des Verteidigers Konrad Biegler (Klaus Maria Brandauer). Zu sehen ist das auf diversen Sendern (siehe Info), gekoppelt mit einer Doku und einer 45-minütigen Fassung in der ARD-Mediathek.
Am Beginn dieses Wintertages steht die Entführung der zwölfjährigen Lisa Bode (Alix Heyblom), einem Mädchen aus reicher, intakter Familie bei ihrem morgendlichen Schulweg. Sie wird in einer leeren Industriehalle untergebracht. Essen, Getränke, ein Bett und ein Stofftier stehen bereit. Der vermummte Mann erklärt ihr noch den Kohleofen, seine Lösegeldforderung – in Bitcoins – ist mittlerweile bei der Familie angekommen. Dann sieht man, wie der Wind eine große Plastikplane über den Schornstein legt, während der Mann das Kidnapper-Auto anzündet.
So weit sind beide Filme bis auf den Farbton nahezu identisch. Eines vorweg: Es lohnt sich, beide Perspektiven anzusehen. Denn man erkennt, wie essenziell Kameraführung, Bildausschnitt und Schnitt für ein Werk, seine Haltung und Aussage sein können. In „Feinde – Gegen die Zeit“ folgt man dem von der Realität ernüchterten Kommissar Bjarne Mädel, den man bislang aus komödiantischen Rollen und vor allem als „Tatortreiniger“ kennt, bei den Ermittlungen. Er verkörpert den Beamten als empathischen Familienvater. Er will das Mädchen retten, um jeden Preis, und glaubt fest daran, dass der Sicherheitsmann Georg Kelz (furios: Franz Hartwig) der Täter ist.
Die Beweise fehlen. Nadler will sie beschaffen, auch illegal. Er erzwingt das Geständnis, nachts, mithilfe der Foltermethode des Waterboardings. Wie weit darf man gehen, um ein Menschenleben zu retten?
Das Herzstück dieses TV-Experiments, das an den wahren Fall des 2002 getöteten Jakob von Metzler angelehnt ist, ist aber der kammerspielartige Gerichtsprozess. Dort, wo der Rechtsstaat verhandelt wird. Der Teil „Feinde – Das Geständnis“ erzählt von der Vorbereitung des Verteidigers Konrad Biegler auf den Prozess, von gefinkelten Vernehmungen und einem packenden Kreuzverhör. In diesen Momenten brilliert Klaus Maria Brandauer als kurz vor der Pension stehender Anwalt mit winzigen Gesten. Der Showdown rund um die Täterfrage ist textlich in beiden Versionen ident, die Kamera nimmt unterschiedliche Haltungen ein. Die Geschichte des Opfers und dessen Familie wird zunehmend ausgeblendet. Schade.
Anders als bei „Terror“ oder „Gott“ wird das Publikum am Ende nicht befragt, kann sich nicht in der Meinung der Mehr- bzw. Minderheit wiegen. „Feinde“ lässt einen alleine zurück. Weniger fordernd ist das nicht.
Julia Schafferhofer