Ab sofort erreicht ihr mich unter meinem neuen Kanal bei Telegram. Unter ‚Michael Wendler Offiziell‘ bekommt ihr die ganze Wahrheit.“ Eine Woche ist vergangen, seit der Schlagersänger und Liebling der Klatschmagazine in schriller Pose einen Schlussstrich zog: vielleicht unter seine Karriere, sicherlich unter seine Zusammenarbeit mit RTL. Dem Privatsender warf Wendler in Sachen Corona Gleichschaltung vor, der deutschen Regierung „grobe und schwere Verstöße gegen Verfassung und Grundgesetz“.
Die spektakuläre Karrierekehrtwende des 48-Jährigen, der eigentlich Michael Norberg heißt und bislang mit seiner Ehefrau Laura Müller (20) neurotisch das Licht der TV-Öffentlichkeit suchte, ist zugleich auf anderer Ebene eine Geschichte über den Messengerdienst Telegram. Im Vergleich zu Facebooks WhatsApp, wo sich weltweit 1,5 Milliarden Menschen austauschen, ist Telegram mit rund 400 Millionen Nutzern ein kleinerer Anbieter.
Was auf Facebook gelöscht
Dem russischen Dienst, der lange vom Image profitierte, besonders sicher zu sein, fällt aktuell eine spezielle Rolle zu: Die Gratis-App dient nicht nur der Nachrichtenübermittlung, sie ist zu einer mächtigen unregulierten Plattform geworden, die nicht nur kruden Corona-Verschwörern die Bühne bietet: Antisemitismus oder Hassreden bleiben konsequent unsanktioniert. Was von Facebook oder Youtube gelöscht wird, zum Beispiel, weil es rassistisch ist, findet hier weitere Verbreitung. Mehr noch: Die Löschung auf den großen Plattformen dient als vermeintlicher Beleg für die Glaubwürdigkeit.
Der Wechsel von Meinungsmachern auf Dienste wie Telegram muss nicht unbedingt den Rückzug ins Private bedeuten: Der im Sommer von den sogenannten sozialen Netzwerken verbannte rechte Aktivist Martin Sellner hat auf Telegram mittlerweile 57.000 Abonnenten. Über eine enorme Reichweite verfügt auch die frühere „Tagesschau“-Moderatorin Eva Herman, die 145.000 Menschen unter anderem über angebliche „Chip-Implantate“ informiert. Michael Wendlers Kanal traten innerhalb einer Woche knapp 100.000 Personen bei: Ihnen gegenüber inszeniert der Deutsche eine Gegenöffentlichkeit und wettert hochfrequent und vorzugsweise in Versalien gegen den Mund-Nasen-Schutz oder andere Maßnahmen gegen die Pandemie. Anders als bei offenen Netzwerken fällt die Selbstregulation weg: Es gibt keine Meldemöglichkeit, die Kanäle funktionieren als Monolog.
Interview mit der Sozialpsychologin Pia Lamberty
Der Begriff "Verschwörungstheorie" hat sich zu einem emotionalen Kampfbegriff unserer Zeit entwickelt. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Pia Lamberty: Ich würde hier nicht unbedingt von einem Kampfbegriff sprechen, aber sicherlich wird das Thema stark diskutiert. Vor Corona handelte es sich eher um ein Nischenthema, das eher der Belustigung diente. Jetzt in der Pandemie fangen Menschen an es ernster zu nehmen und sehen, welche Konsequenzen diese Ideologie haben kann. Die waren natürlich auch bereits vor Corona da. Ich halte es für wichtig, dass sich mit diesem Thema auseinandergesetzt wird. Die WHO hat bereits 2019 Impfgegner:innen als globale Bedrohung bezeichnet. Das geht natürlich nicht nur um den Verschwörungsglauben, aber der spielt hier auch mit rein – wie auch unsere Studien zeigen. Im Kontext der Pandemie zeigte sich auch, dass der Verschwörungsglaube damit zusammenhängt, wie man sich in der Pandemie verhält. Darüber hinaus wird gerade Antisemitismus über diese Ideologie transportiert. Da braucht es als Gesellschaft Umgangsstrategien.
Warum macht die aktuelle Pandemie-Situation so viele Menschen anfällig für Verschwörungsmythen?
Pia Lamberty: Insgesamt ist der Glaube an Verschwörungen weit in der Gesellschaft verbreitet – auch vor der Pandemie. In den USA zeigen Studien, dass jeder zweite US-Amerikaner an mindestens eine Verschwörungserzählung für wahr hält. Für Deutschland lässt sich sagen, dass ca. ein Drittel eine generelle Tendenz haben an Verschwörungen zu glauben. Aus der Forschung lässt sich ableiten, dass Situationen, in denen Menschen einen Kontrollverlust erleben, sie eher dazu neigen, Verschwörungen zu wittern. Die Pandemie kann eben als so ein Kontrollverlust verstanden werden. Man weiß nicht, was als nächstes passiert und ist mit vielen Informationen konfrontiert, die einen teilweise überfordern. Die eigene Lebenswirklichkeit wurde von heute auf morgen fundamental in Frage gestellt. Darüber hinaus haben wir es bei Corona mit einer unsichtbaren Bedrohung zu tun, die viel schwerer zu greifen ist. Ich würde sagen, dass ca. 25-30 Prozent der Deutschen an Mythen über die Pandemie glauben. Trotzdem kann man jetzt noch nicht abschließend sagen, was die Pandemie mit dem Veschwörungsglauben in der Gesellschaft macht. Dazu braucht es noch mehr Studien, die sich das im Verlauf anschauen.
In Bezug auf Michael Wendler: Wenn jemand mit einer derart großen Reichweite plötzlich beginnt, Coronamythen zu verbreiten und sich mit seinen Anhängern in einen Telegram-Kanal zurückzieht: Was macht das mit seinen Anhängern, wie folgenreich ist so eine Aktion?
Pia Lamberty: Wenn Prominente Verschwörungsmythen verbreiteten, reagieren viele erst einmal belustigt. Ich halte es allerdings nicht für ungefährlich. Solche Menschen verfügen oft über eine enorme Reichweite. Ich glaube nicht, dass sie Menschen, die keine Affinität für eine solche Weltsicht quasi aus dem Nichts da „reinziehen“ können, aber gerade die, die vielleicht schon eine gewisse Verschwörungsmentalität haben, können so in Kontakt mit einer Szene kommen, die nicht ungefährlich ist. Studien haben auch gezeigt, dass sich solche Narrative gerade dann verbreiten, wenn sie durch reichweitenstarke Accounts befeuert werden. Darüber hinaus fühlen sich Verschwörungsgläubige durch Prominente dann oft auch wieder bestärkt in ihrer Weltsicht. Es vermittelt ihnen, dass sie immer mehr werden. Das wird auch so explizit in E-Mails formuliert, die ich erhalte. Da heißt es dann, dass ein weiterer Prominenter "den Schritt in die Freiheit" gemacht habe.