Es ist in diesen Tagen ein alter Hut, der unter diesen Bedingungen aber glänzt wie Gold: Eine Bühnenvorstellung, die abgefilmt wird. Was in der Coronazeit in unterschiedlicher Qualität alltäglich wurde, macht Disney mit "Hamilton" zum Megaprojekt: Allein für die Rechte am gehypten und mit Grammys und Tonys überhäuften Broadway-Hit soll der Unterhaltungskonzern 75 Millionen Dollar bezahlt haben. Statt im Kino ist "Hamilton" jetzt auch auf Disney+ zu sehen.
Lässt sich amerikanische Geschichte rappen, tanzen und das als Musical? Fraglos. Weil Schöpfer Lin-Manuel Miranda – durch den Erfolg zum gefeierten Star geworden – in Personalunion von Autor, Komponist und Hauptdarsteller mit "Hamilton" ein Werk geschaffen hat, dem das Kunststück gelingt, zwei konträre Anforderungen zu erfüllen: musicalgerecht zu unterhalten und zugleich die Komplexität der amerikanischen Unabhängigkeits- und Verfassungsgeschichte zu erklären. Liebe und Paragraphen, Pathos und Philosophie.
"A bastard, orphan, son of a whore": Das in erster Linie von "people of colour" gespielte Muscial erzählt eine amerikanische Tellerwäscher-Geschichte. Vom in der Karibik geborenen Waisen zum großen Staatsmann und ersten Finanzminister, der sich für die Rechte aller Amerikaner einsetzte. "Talk less, smile more" erhält Alexander Hamilton als einen Ratschlag, an den er sich nicht hält. Aber natürlich, hat er doch viel zu erzählen, fast drei Stunden lang wird seine Biografie die Gründungsgeschichte der USA schwungvoll rekapituliert. Wobei die Inszenierung freilich vom Blick aus der Gegenwart lebt: Die aktuellen Rassismus-Diskussionen schwingen überall mit, auch wenn die Aufzeichnung von 2016 stammt.
Nicht alles erschließt sich Nicht-Amerikanern. Ausschaltreflex gibt es dennoch keinen, weil die Bildregie genial, die Texte klug, die Rhythmen nicht den Genre-Hörgewohnheiten entsprechend und die Optik hinreißend ist. Nicht zuletzt ist "Hamilton" ein künstlerisch gelungenes Musical mit eingängigen Liedern. Ein Tipp: Wer in Bezug auf die Heiligtümer der US-Geschichte – den Gründervätern – nicht sattelfest ist, dem hilft der Hamilton-Artikel auf Wikipedia weiter.