Der Titel ist dick aufgetragen: "Weltmacht am Abgrund" hat IT-Journalist Steven Levy sein Buch über das größte soziale Netzwerk der Welt und seinen Mastermind Mark Zuckerberg genannt. Der englische Titel „The Inside Story“ („Die innere Geschichte) beschreibt das Werk fraglos schlüssiger. Detailliert legt der ehemalige „Newsweek“-Redakteur, der sich seit Jahrzehnten mit Technologiekonzernen befasst, die Mechanismen von Facebook frei und erläutert, woran der Konzern wuchs und immer wieder neu scheitert. Die Grundlage, auf die sich Levy stützt, ist solide: Ein gutes dutzend Mal sprach er mit Zuckerberg persönlich. Dazu kommen interne Dokumente und zahllose Gespräche mit Facebook-Wegbegleitern.
Als Levy im Jahr 2006 Zuckerberg zum ersten Interview traf, sei dieser bloß wie in einer Schweigetrance vor ihm gesessen. Drei Jahre zuvor hatte Zuckerberg mit der wenig charmanten Plattform „facemash“ – einer Art „hot or not“ – seinen Rauswurf aus Harvard riskiert und musste vor dem Verwaltungsrat der Universität vorsprechen. Diese kleine Episode nimmt Levy, um zu zeigen, wie früh sich Zuckerberg mit Fragen des Datenschutzes auseinandersetzen musste. Ein Jahr später entstand mit Facebook jenes epochemachende Portal, das laut Levy gerade vor dem Abgrund stehen soll.
Der ehemalige Chefredakteur von „Wired“ erzählt mit Akribie vom Innenleben des Konzerns und Vordenkers, der Kaiser Augustus verehrt. Emotionen schiebt der Autor beiseite und lässt sich auf keine Schwarz-Weiß-Darstellung ein. Auch deswegen ist Levys Beitrag zum Thema eine Bereicherung für eine Debatte, die weit Größeres als nur den Silicon-Valley-Konzern verhandelt.
Im Kontext der nahen US-Wahlen besonders aktuell ist das Kapitel über die Präsidentschaftswahlen 2016. Detailliert arbeitet Levy Facebooks Irrtümer und blinde Flecken heraus: Beginnend bei der scheinbaren Neutralität durch Nichteinmischung und der vermeintlichen Sicherheit, dass Hillary Clinton ohnehin gewinnen würde. Das Buch zeigt hier ein Netzwerk, das die Lüge belohnte und längst zu mächtig war, um neutral sein zu können. Viel zu spät wollten Zuckerberg und Facebook sehen, was der Newsfeed seiner Nutzer geworden ist: ein idealer Ort für Falschmeldungen.
Welche Begründung findet Levy für Facebooks Haltung? Eine nicht zu entwirrende Struktur aus Optimismus, Fahrlässigkeit, Geltungsbewusstsein, Selbstgefälligkeit, Ignoranz. Kumuliert im Motto „Move Fast and Break Things“ – da sind Kollateralschäden wie diverse Datenskandale strukturell vorgezeichnet.
Wo ist er nun, der Abgrund, vor dem Facebook steht? Levy schließt sein Buch mit den Plänen zu Facebooks Digitalwährung Libra und der elementaren Frage, warum nach diversen Skandalen irgendjemand Facebook Geld anvertrauen sollte. Einen Mehrwert erfährt die Lektüre im Kontext der aktuellen Coronakrise, in der Facebook einen Lerneffekt zeigen kann: Das Unternehmen geht mit beachtlicher Konsequenz gegen die Flut an Covid-Fake-News vor. „Wir erlauben keine Inhalte, die eine unmittelbare Gefahr oder ein Risiko schaffen“, hat Zuckerberg endgültig keine Lust mehr, seine Plattform zum Spielfeld gefährlicher Lügen zu machen.