Tötensen, ein Ort in Niedersachsen, hat zwei bekannte Menschen hervorgebracht. Der eine ist Dieter Bohlen, der andere heißt ClaasRelotius, ein journalistisches Jahrhunderttalent, das sich letztlich als Münchhausen erwies. Als das Lügengerüst des für den „Spiegel“ tätigen Mannes im Vorjahr zusammenbrach, löste es im deutschen Journalismus ein Erdbeben aus. Zahlreiche Magazine waren von den Fälschungen betroffen, allen voran der „Spiegel“, den der „Fall Relotius“ in eine tiefe Krise stürzte.
Enttarnt wurde Relotius von seinem Ex-Kollegen JuanMoreno, der in „Tausend Zeilen Lüge“ die Hintergründe darlegt. Das Buch sucht Erklärungen dafür, wie ein von der Branche gefeierter Jungspund jahrelang Details oder Anekdoten in Reportagen erfinden konnte, ohne in der Redaktion aufzufliegen: „Sie ließen sich blenden vom Stoff, vom Sound, von den Recherchesensationen, die er wie ein Uhrwerk lieferte, auch vom Applaus, den seine Texte bei Lesern und Jurys generierten.“ Als schließlich der Vorhang fiel, wollte man ihm nicht einmal sein Geburtsdatum glauben.
Was Moreno zu erzählen hat, stellt dem „Spiegel“ kein gutes Zeugnis aus. Der hartnäckige Journalist habe „gegen massiven Widerstand“ im Magazin die Schwindeleien aufgedeckt. Und auch bei der Erstellung des Buches erwies sich der frühere Arbeitgeber von Relotius als wenig hilfreich, stellte dem Autor keine Dokumente zur Verfügung und verweigerte die Kooperation. Dennoch ist es keine Abrechnung mit dem „Spiegel, wie der als freier Journalist tätige Moreno in dem spannend aufbereiteten Buch betont.
Detailreich führt er an, wie seine Skepsis gegenüber dem mit Preisen überhäuften Jung-Reporterstar wuchs, wie er Relotius mit zunächst noch zögerlichen Hinweisen konfrontierte und wie Kollegen die eklatanten Widersprüche in den Reportagen übersahen. Letztlich ortet Moreno ein „Systemversagen beim ‚Spiegel‘, aber kein System der Fälschung“. Dafür sei Relotius selbst verantwortlich, der nicht nur als Journalist Lügen verbreitete. Selbst bei seinem „Spiegel“-Einstellungsgespräch blieb er nicht bei der Wahrheit, erfand eine krebskranke Schwester. Lügen waren Teil seines Lebens, seiner Kommunikation: „Relotius war nie ein Reporter, er war ein Hochstapler.“